Magazin Beitrag
Wikileaks' wirkliches Verdienst
Das US-Außenministerium zeigt sich nach der Veröffentlichung weiteren brisanten Materials besorgt, denn die nationale Sicherheit stehe auf dem Spiel. Dies ist so ziemlich die einzige offizielle Reaktion, nachdem Wikileaks erneut über Greuel im Kriegsgebiet berichtete. Das Leben von US-amerikanischen Soldaten stehe nun auf dem Spiel, kam einzig als Resumee über die offiziellen Kanäle des deutschen Bündnispartners.
Gewiss, große Überraschungen barg die Veröffentlichung nicht - das hat das Pentagon schon ganz richtig erkannt. Vorher wusste man nicht sicher, nicht mit letzter Klarheit, ob dort unkontrolliert auf Zivilisten geschossen wurde; man wusste nicht, ob Kinder und verwundete Frauen wirklich abgemurkst wurden; wusste nicht hundertprozentig von Folterexkursionen - man konnte es nur ahnen, konnte eins und eins addieren, konnte sich mit etwas lebhafter Phantasie ausmalen, dass es den edlen Soldaten und das kalkulierte Maschinengewehrgeknatter nicht gibt. Kriegserfahrung am eigenen Leibe ist heute nicht mehr nötig, um sich einen Einblick in die Zufälligkeit eines Kriegsschauplatzes zu verwirklichen; diese Zufälligkeit, die kalkuliert und berechenbar alles mit sich in den Tod reißt, wenn nur lange genug gefeuert und gebombt wird, sie wurde im letzten Jahrhundert ausladend bildhaft in Fotografie und Film, in Literatur und Reportagen umgesetzt, sodass man ahnen konnte, wie es an Fronten und auf Schlachtfeldern im Mittleren Osten aussehen könne.
Wikileaks hat wahrlich nichts Sensationelles geliefert, nur Geahntes untermauert. Was die Clique um Julian Assange aber tatsächlich blankgelegt hat, ist etwas anderes. Dass der dort fechtende Westen wenig Interesse an Aufklärung von Foltervorwürfen oder Gemetzeln an Zivilisten hat, war gleichfalls bekannt, wurde auch intensiv geahnt. Scheinprozesse gegen folterndes Militärpersonal, wie sie die Welt vor einigen Jahren in den Vereinigten Staaten beobachten konnte, täuschen darüber nicht hinweg. Dass sich nun die US-amerikanische Administration aber hinstellt, sich trotz der massiven Vorwürfe und der Beweise mokiert, es sei nun als oberste Sorge die Sicherheit der Nation und der Soldaten in Gefahr: das ist schon ein Meisterstück an herrischer Überheblichkeit und es ist das Meisterstück von Wikileaks.
Spekuliert hat man nämlich schon lange darüber, dass das Leben von Irakern, früher von Vietnamesen, keinen Pfifferling wert ist in den Augen westlicher Herrenmenschen. Jürgen Todenhöfer erklärte vor geraumer Zeit, dass der Westler im Inneren denke, das Leben eines Europäers sei mehr wert, als das Leben eines Muslims. Wie Außenministerin Clinton da verärgert und mit Sorgenfalten, die einem ausgetrockneten Flussbett glichen, vor die Presse trat, ihre Erklärungen abgab: da wurde anschaulich, dass Todenhöfer nicht ganz so verkehrt lag.
Von den Greueltaten wusste man vorher schon, auch wenn es weniger Beweise gab als jetzt; ein wenig Menschenkenntnis, ein Schuss Vorstellungskraft, die Fähigkeit sich in Krisengebiete hineinzudenken: und man ahnt nicht nur mehr - man weiß, wie es dort zugeht, sieht die Gemetzel vor seinem inneren Auge. Dem Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts, diesem Jahrhundert der Kriege, scheint das Wissen von Grausamkeit ins kollektive Gedächtnis gebrannt zu sein. Oder, mit Albert Camus gesprochen, der in »Der Fall« einen Aufenthalt in einem Internierungslager umschreibt: »Ich will es Ihnen nicht weiter beschreiben. Wir Kinder dieser Jahrhundertmitte brauchen keine anschaulichen Schilderungen, um uns derartige Orte vorstellen zu können. Vor hundertfünfzig Jahren brachten Seen und Wälder das Gemüt zum Schwingen. Heute stimmen Lager und Gefängniszellen uns lyrisch. Ich überlasse die Ausmalung also vertrauensvoll Ihrer Phantasie. Fügen Sie nur noch ein paar Einzelheiten hinzu: die Hitze, die senkrecht herabbrennende Sonne, den Wassermangel, die Fliegen, den Sand.«
Ein wenig Phantasie und die Todeslyrik war geschrieben. Dass aber für die Herren des Westens, die sich immerhin als die Krone der Menschheit verstehen, eine Hierarchie existiert, dass denen ein toter Europäer oder Amerikaner mehr schmerzt als ein Muslim: das konnte man ahnen, darüber konnte man spekulieren - glauben wollte man es nie so richtig; es war ja auch bequemer, ein solches Abwägen von Leben und von Kulturen, für einen unsachlichen Vorwurf zu halten. Dass man dies nun anhand der offiziellen Reaktionen der westlichen Administrationen glauben kann: das ist Wikileaks zu verdanken - das ist Wikileaks' wirkliches Verdienst
Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf ad sinistram.