Magazin Beitrag

Die Zukunft liegt schon hinter uns

Der Erinnerungsforscher Harald Welzer im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Frank Raddatz

Das hier wiederveröffentlichte Interview mit dem Kulturwissenschaftler,  Erinnerungsforscher und Kuratoren Harald Welzer erschien erstmalig 2009 im »Arbeitsbuch 18. Welten Wenden 8909« beim Verlag Theater der Zeit. Wie der Titel der Publikation leicht erahnen lässt, wohnt sie – gleich diesem Interview – der »Erinnerungsweltmeisterschaft« des vergangenen Jahres bei. Nicht um selbst bei ihr anzutreten oder sich in der allseitigen Jubiläumsduselei zu ergehen, sondern um diese in den Rang eines Gegenstandes zu erheben und von ihm zwecks eigener Reflexionen sich abzustoßen. Da aber diese von ihrem unmittelbarsten Anlass nicht abhängen, vielmehr über ihn hinaustragen, schien uns eine neuerliche Verfügbarmachung erlaubt.

Frank Raddatz: Herr Welzer, Sie sehen gerade analog zu 1989 einen Epochenwandel sich vollziehen. Was passiert da? Und gibt es Bezüge zu 89?

Harald Welzer: Es war naiv zu glauben, dass, wenn eine Hemisphäre der Welt zusammenbricht, die andere dann so fortbestehen bleibt, wie sie bis dahin gewesen ist. Das funktioniert natürlich nicht. Insofern ist das, was jetzt zusammenbricht, schon in Zusammenhang damit zu sehen, was 1989 passiert ist. Ich habe bereits vor dieser Krise häufiger gesagt, dass es von großer Unbedarftheit zeugt, wenn man die osteuropäischen Gesellschaften als Transformationsgesellschaften bezeichnet und glaubt, in Westeuropa bleibe alles beim Alten. Stattdessen kommt es darauf an, zu kapieren, dass der Westen plötzlich auch eine Transformationsgesellschaft ist. Dieses Siegergefühl, mit dem Kapitalismus am Ende der Geschichte zu stehen, hat eine euphorische Naivität zum Ausdruck gebracht, die jetzt verflogen ist. Ob dabei die Demokratie unter die Räder kommt, wird man sehen. Ich würde das eher positiv als Frage formulieren. Welche Herausforderungen resultieren eigentlich aus dieser ganzen Entwicklung für demokratische Gesellschaften?

F.R.: Auf jeden Fall ist unübersehbar etwas in Bewegung gekommen

… aber erheblich.

F.R.: Sie werden im Herbst ein Buch veröffentlichen mit dem Titel „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“. Holt uns jetzt Geschichte als Potenzial der Sinnstiftung wieder ein?

Uns holt viel eher die Gegenwart ein, weil uns die Zukunft abhanden kommt. Ich würde es genau umgekehrt formulieren.  Die letzten zwanzig Jahre sind kein geschichtsloser Raum, sondern ein unglaublich geschichtsaufgeladener Raum gewesen. Die deutsche Gesellschaft ist ja extrem vergangenheitsorientiert. Nicht auf DDR-Vergangenheit, aber auf Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Man denke nur an die ganzen Erinnerungstage und -kulte, die Mahnmale und Denkmäler. Diese Art Memorymania, die hier entstanden ist,  hat damit zu tun, dass die Zukunft eher konturlos, wenig greifbar und wenig verheißungsvoll ist.

Mentale Dimensionen wie Vergangenheit und Zukunft haben vor allem orientierende Funktion. Man schaut in die Vergangenheit, um Orientierung für die Zukunft zu gewinnen. Aber auch Zukunft kann eine orientierende Funktion haben. Wenn man zum Beispiel sagt, ich will da und da hin und ein bestimmtes Ziel erreichen, dann orientiert das den Weg und vielleicht auch die Zeit, in der man das erreichen will. Aber wenn die Zukunft fehlt, dann liefert nur noch die Vergangenheit Orientierung. Oder wenn man in der Zukunft keine finden kann, versucht man, sie in der Vergangenheit zu finden. Was natürlich für die deutsche Vergangenheitssituation eine höchst prekäre Angelegenheit ist. Denn sie kann ja erstmal nur negativ orientieren. Es gab vor ein paar Jahren in der Berliner Zeitung ein Interview mit George Steiner, der sagt mitten im Interview: „Dieses Land ist müde. Todmüde.“ Als der irritierte Interviewer zurückfragt, wie er das meinen würde, antwortet er: „Too much memory.“ Da ist was dran. Der Erinnerungskult ist teilweise ein unendlicher Regress, wo immer dasselbe gesagt wird mit immer demselben Gesichtsausdruck. In Wahrheit fehlt die Zukunft.

Dorte Lena Eilers: Aber man kann doch durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit einen Pool an Handlungsweisen für die Gegenwart und Zukunft erlangen, auch durch negatives Abgrenzen von der Vergangenheit im Sinne von „Ich weiß, wie ich es in der Zukunft nicht machen sollte“.

Das ist die Theorie. Aber ist das eine geprüfte Theorie? Es gibt diese ungeprüfte Hypothese, dass man aus der Geschichte lernen kann. In mancherlei Hinsicht kann man das, wenn man zum Beispiel strukturelle Entwicklungen miteinander vergleicht, schaut, unter welchen Bedingungen sich Menschen für Gewalt entscheiden, unter welchen Bedingungen Gesellschaften hin zu Ausgrenzungsgesellschaften driften. Das ist aber niemals eins zu eins. Was wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist, dass es erstaunlich viel Wissen über die Geschichte gibt, daraus aber eigentlich kein Lerneffekt resultiert und kein Transfer geleistet wird. Das hat wiederum damit zu tun, wie Geschichte betrachtet wird. Man kann ja hier und da Transfers machen – ist unsere Situation jetzt so ähnlich wie die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise? –, aber welche Lehre soll man zum Beispiel aus dem Holocaust ziehen? Der war ja die totale Negation jedes subjektiven Sinns. Ich kann überhaupt nicht sehen, was das einem sagen soll. Und weil das so ist, kreist auch alles immer nur um das absolute Grauen, und das beinhaltet keine Lehre, der Holocaust hat keine Lehre. Wenn ich mir stattdessen die Normalgesellschaft anschaue von 1933 über die Folgejahre, dann kann ich vielleicht etwas über die Selbstveränderung von Gesellschaften lernen. Und das könnte instruktiv dafür sein, wie man die Gegenwartsgesellschaft versteht. Man kann Geschichte nur gebrauchsfähig machen, indem man sie als Prozess betrachtet, in dem an jeder Stelle verschiedene Möglichkeiten vorliegen. Und nicht die Beobachtung auf den Punkt einstellt, wo das Verhängnis schon passiert ist und sich das Ganze finalisiert.

D.L.E.: Sehen Sie in der Beschäftigung mit der DDR derartige Fehler im Umgang mit der Geschichte?

Ich finde das Thema ganz schwierig, weil ich erstens kein DDR-Experte bin, die erinnerungspolitischen Verspannungen deshalb nicht besonders gut verstehe – das ist jetzt keine Wertung, sondern ich kenne mich einfach nicht aus. Und zweitens würde ich als Erinnerungsforscher sagen, die Zeit ist überhaupt noch nicht da, dass sich die Gesellschaft mit dieser Vergangenheit auseinandersetzt. Wir wissen von allen historischen Großereignissen, dass es mindestens eine Generation braucht, bis man sich damit auseinandersetzen kann, d. h. dreißig bis vierzig Jahre. Das gilt für den Nationalsozialismus, das gilt für Frankreich und Algerien, das gilt für Japan und die Kriegsverbrechen, das gilt für Amerika und Vietnam.

D.L.E.: Was halten Sie denn dann vom Freiheits- und Einheitsdenkmal, das zum Gedenken an die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung in Berlin errichtet werden soll?

Oh Gott, ja, das ist ein solcher Schwachsinn.

D.L.E.: Weil man denkt, Geschichte in ein Denkmal gießen zu können?

Erst einmal ist die Zeit dafür überhaupt noch nicht reif, zweitens hätte man, wenn man ein Denkmal hätte haben wollen, die Mauer stehen lassen sollen. Robert Musil hat 1927 seinen berühmten Aufsatz über die Denkmäler geschrieben. Er sagt, die zentrale Eigenschaft eines Denkmals sei, dass man es nicht sieht, dass es die wunderbare Eigenschaft hat, „entmerkt“ zu werden, historische Ereignisse zu „entmerken“ – sobald Denkmäler da sind, sieht man sie nicht mehr, sie entleeren den Geschichtsinhalt, an den zu erinnern sie vorgeben. Musil endet damit, dass, wenn man den Protagonisten der Geschichte ein Denkmal setzt, man sie mit einem Mühlstein um den Hals in das Meer des Vergessens wirft. Die Denkmalisierung in diesem Land, das Dislozieren von Mahn- und Denkmälern aller Art ist ein anderer Indikator für die Beobachtung, dass dieser Gesellschaft die Zukunft abhanden gekommen ist. In London haben sie ein Denkmalsmoratorium verhängt. Dort will man keine Denkmäler mehr, und hier werden Schlösser wieder aufgebaut und Denkmäler debattiert. Wenn man diesen merkwürdig historistischen restaurativen Gestus in der Architektur anschaut – Dresden ist ja ein Alptraum, oder diese Geschichten wie das Berliner Stadtschloss oder Hannover, wo sie jetzt das Schloss in Herrenhausen wieder aufbauen –, kann man sich kaum vorstellen, als welche Epoche unsere in fünfzig Jahren interpretiert werden wird. Als eine, die unfähig ist, eine Signatur der Gegenwart zu schaffen? Wofür steht denn das Jahr 2009, wenn man eine Kulisse wieder aufbaut, die mit dieser Zeit nichts zu tun hat. Was sagt das über uns, über unsere Zukunftsfähigkeit, wenn wir unsere Städte mit kitschigen Requisiten möblieren?

D.L.E.: Sie hätten also den Palast der Republik und die Frauenkirche so stehen lassen?

Ich hätte gegen den Palast der Republik nichts gehabt. Warum hätte man den nicht asbestsanieren können und fertig? Es ist kein demokratischer Umgang mit Geschichte, wenn man Relikte und Artefakte zerstört. Das ist eigentlich eine Eigenschaft totalitärer und nicht liberaler Gesellschaften.

F.R.: Da wird die Abwesenheit von Zukunftsentwürfen und des Politischen signifikant.

Ja, da wäre ich d’accord. Visionslosigkeit, aber auch totale Defizite in der Selbstbeschreibung. Phantasielosigkeit in Bezug auf sich selbst. Davon geben die Denkmäler Zeugnis. Man will irgendwie wer sein. Aber warum? Weil man niemand ist. Das sieht man auch in der gegenwärtigen Krise. Das Krisenmanagement ist dadurch gekennzeichnet, dass nirgendwo gefragt wird: Wie wollen wir denn eigentlich leben? Wo soll das denn alles hingehen? Es werden so Sätze gesagt wie: „Wir werden aus der Krise gestärkt hervorgehen.“ Aber als was denn bitte schön, und was soll der Grund dafür sein? Das Subjekt, das identifizierbare Kollektiv, was aus irgendetwas hervorgeht, das ist völlig ungreifbar. Dieses ganze Gewurstel rührt daher, dass es keine Vorstellung gibt, wo die Gesellschaft eigentlich hin will und soll.

F.R.: Der Unterschied ist, dass bis 1989 die Vorstellung von verschiedenen gesellschaftlichen Entwürfen nebeneinander existierte, und jetzt kann gar nichts Alternatives mehr gedacht und formuliert werden. Das ist ein Zustand von Stagnation.

Das wird jetzt deutlich. Man kann Identität nur definieren, indem man sagt, wer man nicht ist. Mit dem Verschwinden der einen Hemisphäre verschwand im Grunde auch das Definitionskriterium für die andere. Jetzt existiert nur noch dieses dusselige Sosein. Wir konsumieren, also sind wir. Aber es fehlen Kontrastkategorien wie „Unsere Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass wir es anders machen, dass wir Ökos sind oder die Menschenrechte achten …“

D.L.E.: Gibt es Bereiche, wo Sie dennoch Entwicklung sehen oder wo sich Sinn generieren könnte?

Meine Überlegungen gehen eher in die Richtung, dass unsere Zukunft schon hinter uns liegt – pathetisch formuliert. Wir befinden uns in einem illusionären Zustand, was die Möglichkeiten der Fortschreibung unseres Lebensstils und unseres Gesellschaftssystems angeht. Dieser Typus von Gesellschaft ist infrastrukturell so saturiert, dass man den Aushöhlungsprozess überhaupt nicht mitbekommt, der längst schon stattgefunden hat – weil alles noch funktioniert. Das ist das Verrückte bei der Krise: Die Leute gehen einkaufen, sind gut gelaunt, aber jeden Tag liest man in der Zeitung, dass Krise ist. Dabei übersieht man, dass die Finanzkrise nur ein Teilaspekt einer großen Krise ist, die sich aus dem Klimadebakel, der Energiekrise und der vollkommenen Überalterung der Mitglieder unseres Typs von Gesellschaft mit den entsprechenden politischen Konsequenzen zusammensetzt. Über alle diese Probleme weiß man seit zwanzig oder dreißig Jahren Bescheid. Jetzt steuert alles auf ein Limit zu. Eigentlich ist das Limit systemmäßig auch schon überschritten, aber man hängt der Fiktion nach, dass man einfach so weitermachen kann. Denn das Weitermachen ist erst einmal profitabel. Es geht einem nicht schlecht dabei, nur ein paar Milliarden anderer Menschen geht es schlecht. Vor allem denen, die jetzt geboren werden, wird es schlecht gehen.

D.L.E.: Ich kenne viele, die sagen, der Klimawandel sei doch ein eingeredetes Problem, aufgebläht durch die Medien.

Aber dass wir eine Finanzkrise haben, das bezweifelt niemand. Und dass irgendeine Bank, die wir letztes Jahr noch gar nicht kannten, plötzlich systemrelevant sein soll. Ist das Klima nicht systemrelevant? Das Hübsche an der Finanzkrise ist, dass sie im Kontext der anderen Krisen zeigt, wie ein System an seine Funktionsgrenze kommt. Das ist nun aber ein gravierendes Problem, und kein Mensch hat eine Lösung für dieses Problem. Das Einzige, was als Lösung einfällt, ist dieses Wachstumsgeschwafel. Wenn man jetzt überlegt, was man machen kann, ist es der erste Schritt, die Dimensionen der Krise zutreffend zu beschreiben und nicht immer so zu tun, als würde man das alles schon kennen, als wäre das zu bewältigen, und Ende des Jahres geht es wieder aufwärts. Das ist alles Mist. Außerdem muss man deutlich sagen, dass man das auch nicht will. Wenn man den Umkehrschluss macht und fragt: Was ist denn eigentlich gut an der Krise?, da kann man antworten, sie ist das beste Mittel gegen den Klimawandel. Man könnte auch sagen, wir müssen mal andere Themen setzen. Und wie kann man das machen? Indem man seine Handlungsspielräume, Sie in Ihrem Job, ich in meinem, mal ganz anders ausfüllt und über andere Themen spricht. Sich nicht auf diese Dinge kapriziert, die einem da medial und politisch aufgenötigt werden. Man kann ja viele Sachen total anders machen, selbst im augenblicklichen Stadium. Die Argumentation, man könne nichts verändern, ist wie ein Sedativum. Man kann ja jeden Tag etwas anders machen.

D.L.E.: Aber wenn ich mein Handeln ändere, bedeutet das überhaupt etwas? Wird nicht ganz woanders gesteuert?

Das sehe ich nicht so. Die Argumentation geht von falschen Voraussetzungen aus. Da ist ja die Hybrisvorstellung drin, dass man zuständig für die Rettung der Welt wäre. Das ist ja niemand von uns. Es gibt eben nur einen so und so definierten Handlungsraum, auf den man überhaupt Einfluss hat. Und deshalb kann dieses Weltrettungsargument nicht dafür herhalten, dass man darauf verzichtet, seinen Handlungsraum zu nutzen. Unsere eigene Gesellschaft zu verändern, scheint mir nicht so sehr utopisch zu sein. Das läuft aber auch nicht auf der Ebene „Jetzt setzen wir uns mal schön hin und machen ein Konzept zur Veränderung“, sondern das kann nur als Praxis geschehen.

F.R.: Es gibt in der Tat eine Furcht, sich neu zu erfinden. Das ist auch im Theater mit seinen immer gleichen Strukturen so. Man ist für Veränderungen, aber möchte schon vorher wissen, was dabei rauskommt. Ich finde es ja sehr schön, dass Sie sagen, die Möglichkeiten sind da. Der Prozess ist aber eben offen.

Wir haben den Vorteil, dass wir Veränderung nicht wie im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund vorliegender Konzept oder Heilsversprechen denken müssen. Das ist ein Riesenvorteil, weil es das Denken und die Strategien offen hält und einen nötigt, geschmeidigere Form der Veränderung zu entwickeln. Viel sinnvoller wäre es, über Zukunft zu sprechen, anstatt die Wiederherstellung des Status quo herbeizubeten. Man muss den Zustand thematisieren, dass die Zukunft verschwindet, dass den Leuten die Zukunft genommen wird. Das ist doch das Ungeheuerliche. Wenn man das traditionelle Generationenverhältnis betrachtet, wo es immer hieß, unsere Kinder sollen es mal besser haben, dann ist die gegenwärtige Maxime, unsere Kinder sollen es mal schlechter haben. Es gibt auch gar keine Sprachkritik – „verbranntes Geld“, was soll denn das sein? Wie funktioniert denn eine Börse? Da wird doch was gehandelt. Wenn die einen nichts mehr haben, haben es andere. Das Geld ist doch nicht weg. Das Geld haben Leute, bei denen die Staaten es sich jetzt leihen. Aber sprachlich wird das alles vernebelt. Diese Vernebelungsmaschine funktioniert so gut, dass sich der Protest dagegen nicht ausreichend artikulieren kann. Letztlich liegt es aber daran, dass die intellektuellen Eliten genau diese Thematisierung nicht vornehmen. Man müsste viel öfter sagen, was der Fall ist.

D.L.E.: Also ein Appell an die intellektuelle Elite?

Ja. Da können wir jetzt auf den Anfang zurückkommen. Die Folge von 1989 war im Grunde eine völlige Entpolitisierung des öffentlichen Raumes. Aus den Feuilletons haben sich die Sozialwissenschaftler vollständig herausgezogen. Die ganzen Kommunikationsformate sind weitgehend entpolitisiert worden. Wir haben auch diese furchtbare Entwicklung mit der political correctness gehabt, bloß nichts Falsches sagen. Das führt zu dieser Starrheit, zum Verlust des Selberdenkens. Generationell führt es dazu, dass die am meisten Betrogenen, also die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, keine Erfahrung mit Protestkultur haben und denken, alles müsse wohl so sein, wie es ist. Die müssen aber lernen, dass Protest ein Medium sein kann, in dem man auch Erfahrungen der Selbstveränderung macht.

D.L.E.: Um noch einmal auf die Sprache zurückzukommen: Der Schriftsteller Ingo Schulze sprach in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung einmal von dem Bedeutungswechsel des Wortes. Wenn man in der DDR etwas öffentlich gesagt habe, dann habe das im Kontext der Gesellschaft auch Gewicht gehabt. Nun hat sich der Kontext gewandelt und das Wort würde versanden, habe keine Bedeutung mehr. Stattdessen regiere die Zahl.

Aber ich habe auf der anderen Seite das Gefühl, dass viele Begriffe auch die Qualität haben, dass sie die Sachverhalte oder die Leute lenken. Die Leute denken nicht selber, sondern werden in diesen Begriffen gedacht. Es gibt ja Begriffe, die man nicht denkt, sondern die einen denken. Mit Begriffen wie „verbranntes Geld“ erklären sich die Leute die Welt. Mit diesen unsinnigen Sprachprägungen werden falsche Sachverhalte vermittelt. Wir akzeptieren Konzepte zur Lösung der Krise, ohne dass jemand verstanden hätte, was die Krise überhaupt ist. Was bei dem G20-Treffen in London beschlossen wurde, die bessere Regulierung der Finanzmärkte, liegt zeitlich völlig asynchron zu dem Problem. Was nutzt denn zur gegenwärtigen Bewältigung der Krise die bessere Regulierung der Finanzmärkte der Zukunft? Da muss man den Referenzrahmen verändern. Was mir gefallen hat, war dieses Rimini-Protokoll-Projekt mit der Daimler AG. Man verändert minimal den Bezugsrahmen und schon implodiert das Ganze, die Hauptversammlung mutiert zum Theaterstück. Dann bekommt man auf einmal eine andere Optik. Um die Dinge zu kommentieren, die gerade ablaufen, darf man nicht im Bezugsrahmen bleiben. Für Theater ist das eigentlich eine ganz schöne Metapher. Theater ist nichts anderes als ein anderer Bezugsrahmen.

F.R.: Am Theater geht es auch um Erinnerung, allerdings um keine individuell-empirische, sondern um eine kollektiv-emotionale.

Beiden ist gemeinsam, dass sie ihre Vergangenheit immer nach Maßgabe der Gegenwart umschreiben. Das macht Erinnerung, das ist ihre Funktion. Deshalb ist auch diese Memorymania so irreführend, weil sie so tut, als hätte sie etwas mit Vergangenheit zu tun. Gedächtnis ist einfach opportunistisch. Es operiert immer aus der jeweiligen Gegenwart und legt sich die Vergangenheit so zurecht, wie es für den Gebrauch in der Gegenwart handhabbar ist, wie es Sinn macht. Das meine ich gar nicht wertend oder moralisch.

F.R.: Die Frage ist: Was für eine Vergangenheit brauchen wir, um die Zukunft zu gestalten?

Richtig. Aber das ist jenseits des Aperçus. Was man immer vergisst, ist, dass Gedächtnis zwei Dimensionen hat, nämlich Vergangenheit und Zukunft. Evolutionstheoretisch gesprochen: Lebewesen erinnern sich nur an eine Vergangenheit, um in der Gegenwart etwas zu tun, was einen in der Zukunft überleben lässt. Das ist die ganze Funktion von Erinnerung. Insofern ist Erinnerung nicht dazu da, dass man sich intensiv um Vergangenheiten bemüht, sondern Erinnerung ist dafür da, dass man Zukunft bewältigen kann. Bei dieser Relation wird der zweite Teil immer vergessen, als hätte Vergangenheit und Erinnerung einen Wert in sich.

F.R.: Bei Heiner Müller heißt es: „Nekrophilie ist die Liebe zur Zukunft.“

Da hat die Psychoanalyse auch einiges angerichtet, mit der Devise, dass man immer etwas aus der Vergangenheit durcharbeiten muss. Schrecklich. Das Schwerste, wenn man die Gegenwart verstehen will, ist, einen anderen Betrachterstandpunkt einzunehmen. Man ist ja Teil des Problems. Praktisch betrachtet ist das unheimlich schwer, weil wir nicht in einem idealistischen Universum existieren, sondern in konkrete Kontexte eingebunden sind.

D.L.E.: Hängt diese Schwierigkeit, eine andere Position in Bezug auf Geschichte einzunehmen, auch davon ab, ob sie erlebt ist oder nur vermittelt?

Nein. Mein Kollege Ulrich Herbert hat gesagt: „Ich muss nichts über die Geschichte der SA wissen, um zu wissen, dass ich das Haus meines türkischen Nachbarn nicht anzünden darf.“ Die praktische Ethik generiert sich doch völlig anders als aus Geschichtsbüchern.

F.R.: Bei 89 war so verblüffend, dass es sich so abgespielt hat, als hätte es keiner geplant. Also insofern wüsste ich gar nicht, was ich dabei zu lernen hätte.

Wenigstens ist es wieder ein Beispiel dafür, dass nur eine minimale Veränderung einsetzen muss, und schon läuft das Ding ganz anders. Auch die Erkenntnis – weil man immer von der Schwere der Institutionen spricht –, dass nur ein einzelner Mensch, der Macht hat, an einer Stelle etwas so macht, wie es andere nicht machen würden. Schabowski murmelt zerstreut: „Das gilt ab sofort“, und die Mauer fällt. Man muss sich nur mal vorstellen, wo wir jetzt stünden, wenn nicht Bush mit seinen paar Stimmen Differenz in Florida durchgekommen wäre, sondern Al Gore Präsident geworden wäre. Wir hätten, was die Ökologie angeht, eine ganz andere Welt.

 

Das Interview ist ursprünglich erschienen in: WeltenWenden 89/09, Arbeitsbuch 2009, herausgegeben von Thomas Flierl und Frank Raddatz, Theater der Zeit, Berlin 2009, S. 6-9


Die Kulturjournalistin Dorte Lena Eilers wurde 1978 in Bremen geboren. Nach dem Studium der Musik (Hauptfach Klavier), Biologie und Politik in Osnabrück und Kingston upon Hull / Großbritannien absolvierte sie ein Volontariat bei der Neuen Osnabrücker Zeitung in den Ressorts Kultur/Medien, Politik/Wirtschaft und Sport sowie an der Akademie für Publizistik in Hamburg. Danach ging sie als freie Autorin nach Berlin, arbeitete u. a. für den Tagesspiegel und die Stuttgarter Nachrichten sowie als Projektleiterin im Bereich des Konzertmanagements. 2006 BoB Medienpreis in der Rubrik Printmedien / Reportage. Seit 2007 ist Dorte Lena Eilers Redakteurin der Fachzeitschrift Theater der Zeit mit dem Schwerpunkt Musiktheater. 2008 übernahm sie die Redaktionsleitung der Festivalzeitung zum 7. Festival Politik im Freien Theater der Bundeszentrale für Politische Bildung in Köln. Sie lebt und arbeitet in Berlin.  

Frank Raddatz, geboren in Hannover, promovierte über Heiner Müller. Tätig als Dramaturg u. a. in leitender Funktion am Schauspiel Köln, Staatstheater Hannover, Staatstheater Stuttgart, Düsseldorfer Schauspielhaus. Dozent an der Universität Hannover, der Johann Gutenberg Universität Mainz, der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, der Ruhruniversität Bochum und der Universität zu Köln. Herausgeber bzw. Mitglied des Beirats von Theater der Zeit seit 1993, seit 2007 Redaktionsleitung. Veröffentlichte zahlreiche Texte zum Theater, zuletzt: „Brecht frisst Brecht“ (2007), „Reality strikes back – Tage vor dem Bildersturm“, (Hrsg. zusammen mit Kathrin Tiedemann, 2008), „Im Labyrinth – Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller“ (2009).