Magazin Beitrag
Mehr als die Summe seiner Teile
Im Fokus einer Ausstellung steht für gewöhnlich das In-Szene-Setzen von Objekten, die als individuelle, fertige Kunstwerke gelten. Somit kann dieses Format als Ritual verstanden werden, in dem für eine Marktgesellschaft relevante Verhältnisse im Bereich der Kunst zelebriert werden. Spannend an einer kritischen Auseinandersetzung mit einem solchen Ritual ist nicht nur die Konfrontation mit der eigenen Verstricktheit, sondern insbesondere die Frage, wie und mit welchen Konsequenzen es neu konfiguriert werden könnte.1
2009 war ich als Künstlerin in einen derartigen Versuch involviert, der in der ersten Jahreshälfte in einem vakanten Ladengeschäft im New Yorker Stadtteil Nolita stattfand. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit und der großen Zahl beteiligter Personen – am Ende waren mehr als hundert Leute involviert – führte dieses Experiment immer wieder in eine Kontroverse, die letztlich nicht beigelegt werden konnte. Die Gegensätze und Risse, die hier zu Tage traten, sind nicht allein die zwischen verschiedenen Standpunkten, sondern auch die eines jeden Standpunkts in sich. Der folgende Text reflektiert einige der Perspektiven und Widersprüche.
Das Projekt Exhibition
In unmittelbarer Nachbarschaft zum New Museum gelegen und eingebettet in ein lückenloses Netz an Einrichtungen für den gehobenen Freizeitkonsum, war der gewählte Ort hervorragend in Manhattans Kunstlandschaft integriert. Die schlichte Ankündigung Exhibition, die im Schaufenster in der Elizabeth Street 211 zu lesen war, schien zu halten, was schon die Gegend verspricht. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich die hier stattfindende Präsentation künstlerischer Arbeiten jedoch als ambivalente Situation, die zwar den Charakter einer Ausstellung trug, aber zugleich auch deren Gegenteil war, indem sie sich permanent dem zu widersetzen suchte, was die Bezeichnung für gewöhnlich impliziert.
Initiiert wurde das auf sechs Monate angelegte Projekt Anfang März von Eric Anglès, Elena Bajo, Jakob Schillinger, Nathalie Anglès und Warren Neidich. Sie alle sind in unterschiedlichen Funktionen im Kunstbereich tätig und miteinander befreundet. Ihre persönliche Praxis und Positionen sind dagegen sehr verschieden, und gerade dies war einer der interessantesten Gründe, ein kollektives Experiment zu starten. Dessen kleinster gemeinsamer Nenner lag darin, eine größtmögliche Offenheit der jeweiligen Perspektiven zuzulassen und nichts von vorneherein auszuschließen. Vor allem nicht die Meinungsverschiedenheiten, die dies provozierte. Bereits der Versuch, die grundsätzlichen Modalitäten dieses Projekts zu formulieren, erforderte eine umfangreiche Diskussionsarbeit. Das Resultat dieser Verhandlungen war ein kleines Regelwerk, das die Basis von Exhibition bildete. Einer der wichtigsten Grundsätze lautete, dass es sich um eine einzige Ausstellung handeln sollte, die sich über den gesamten Zeitraum hinweg in kontinuierlicher Entwicklung befindet, und zu der immer wieder neue Personen – Künstler, deren Arbeiten die Initiatoren kennen und schätzen – eingeladen werden. Weiter war vorgesehen, dass die Namen der künftigen Akteure auf Zettel geschrieben und in einen Hut gelegt werden. Ungefähr zweimal pro Woche versammelten sich die fünf Initiatoren um ihn und zogen einen Zettel heraus.
Wer auf diese Weise ausgelost wurde, war als nächster am Zug und hatte bis zu drei Tage Zeit, in die jeweils vorgefundene Raumsituation zu intervenieren. Die Teilnahme implizierte die Zustimmung zum Verzicht auf jeden künftigen Eigentumsanspruch an den dabei entstehenden Werken. Einmal in der Ausstellung positioniert, gehörten diese Arbeiten niemandem, noch waren sie zu verkaufen. Dafür konnten sie jederzeit von den Nachfolgenden benutzt, verändert oder entfernt werden. Dann wurde die Platzierung der neuen Arbeit bestimmt. Hier kam wieder das Zufallsprinzip zu Hilfe, diesmal in der Form eines Würfels. Drei Würfe hatte jeder Teilnehmer, und entsprechend der gewürfelten Zahlen standen ihm bestimmte Bereiche des Raums zur freien Verfügung, der vor jeder Runde in immer neue nummerierte Zonen aufgeteilt wurde.
What you see is not what you get
Was das Publikum in dieser Ausstellung sah, war nichts, das als fertiges Produkt deklarierbar gewesen wäre, sich als solches eindeutigen Urhebern zuschreiben und nun unter ihrem Namen verwerten ließe. Es war stattdessen der provisorische Zwischenstand eines sich im ständigen Fluss befindlichen Prozesses, in dessen Verlauf sich der Charakter dieser Ausstellung mehr als einmal von heute auf morgen radikal veränderte. So vermochte sie es, ihre Betrachter auf eindringliche Weise für die immer gegebene Möglichkeit eines plötzlichen und umfassenden Wandels zu sensibilisieren, die allzu oft aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwindet. Ausgestellt und damit anschaulich und sinnlich erfahrbar gemacht wurden in erster Linie die Konsequenzen konstanter Einmischung, immer aufs Neue zwischen Zustimmung und Widerspruch, Verbessern und Verwerfen oszillierend: ein fortwährendes Akkumulieren, Aufbauen, Aneignen, Abstoßen, Aussortieren, Bereinigen. Wer genau die einzelnen Arbeiten zwischenzeitlich realisiert hatte, ob sie sich lange behaupten konnten oder gleich wieder verschwanden, blieb nebensächlich. Interessant war vielmehr, welche Dynamik sich auf diese Weise entwickelte und in welche Richtung sie wies.
Unvorhersehbarkeit spielte eine essentielle Rolle in diesem Projekt. Die Konstellationen entstanden zufällig – die fünf Initiatoren wollten laut eigenen Erklärungen nicht die Kuratoren dieser Ausstellung sein. Dennoch agierten sie zunächst wie ebensolche, denn schließlich hatten sie durch die Auswahl der Personen, deren Namen in den Hut wanderten, eine erste und sehr wichtige Setzung vorgenommen und den möglichen Teilnehmerkreis stark eingegrenzt. Doch arbeiteten sie dann mit einem Versuchsaufbau weiter, der die Rolle des Kurators wiederum in Frage stellte. Mit Hut und Würfel überließen sie dem Zufall maßgebliche Entscheidungen über Reihenfolge und Anordnung, die auf diese Weise unabhängig von subjektiven Präferenzen getroffen wurden. Auch das kann allerdings als kuratorisches Konzept verstanden werden, und der proklamierte Verzicht auf Kontrolle spielte sich immer noch innerhalb von kontrollierenden Regeln ab, so reduziert diese auch gewesen sein mögen.
Auf die Frage, wie gegebenenfalls mit Regelbrüchen umgegangen werden sollte, ob etwaige anarchische Anwandlungen der geladenen Gäste begrüßt oder mit Sanktionen belegt werden, gab es bis zuletzt keine klare Antwort. Unter den fünf Gastgebern herrschte bereits darüber Unstimmigkeit, ab wann überhaupt von einer Regelverletzung die Rede sei, ob und wie oft sie eigentlich selbst welche begangen haben. Auf eine Lösungsmöglichkeit zumindest konnten sie sich immer wieder verständigen: ihren Regeln eine Ausnahme hinzuzufügen.
Vorübergehende Kunst
Ein weiterer Kerngedanke manifestierte sich im Anspruch, eine Ausstellung zu realisieren, in deren Mittelpunkt nicht wie bei diesem Format üblich die materiellen Resultate künstlerischer Tätigkeit stehen. Es ging nicht um das zum verkäuflichen Kunstobjekt erstarrte und signierte Getane, das es nun galt, adäquat zu präsentieren, aufzubewahren und mit Bedeutung aufzuladen. Im Ausstellungsritual verankerte Vorstellungen wie die von Eigentum oder der Autorschaft eines Künstlersubjekts wurden vielmehr ins Wanken gebracht. Dabei gaben sie den Blick frei auf ganz andere Perspektiven: auf Prozessualität und Flüchtigkeit, auf Möglichkeiten eines gemeinschaftlichen kreativen Handelns.
Sobald ein Künstler seine Intervention beendet hatte, wurde gleich der nächste in die Ausstellung geführt. Dadurch baute sich Druck auf, und mit ihm Intensität. Manche Eingriffe blieben nur für einen Augenblick sichtbar. Ein derartig verschwenderisches ‚Vorübergehen’ der einzelnen Kunstwerke ließ sie zu ephemeren Gebilden und zum eigentlichen Inbegriff von Luxus werden. Sie waren so befreit von jeglicher Schwere und der damit oft einhergehenden Schwerfälligkeit, die ihnen in herkömmlichen Ausstellungskontexten allzu gerne aufgeladen wird. An die Stelle vermeintlicher Gewissheiten traten das Bekenntnis zur Ungewissheit und die Neugier auf Veränderung. Jeder Arbeit war ihr nahes und unwiderrufliches Ende von Anfang an inhärent, die Künstler wussten dies und akzeptierten es. Denn Verschwinden ist nicht gleich bedeutend mit Verlust. Als Erinnerung, Gedanke und Vorahnung war jeder Eingriff vom Moment seiner Materialisierung an im Prozess enthalten und hat sich in ihn eingeschrieben als implizite Voraussetzung der Dinge, die noch kommen ebenso wie als Rückgriff auf das, was vorher war.
Die Macher von Exhibition fotografierten die verschiedenen Zustände des Raumes und führten ein einsehbares Archiv, in dem jeder Ausstellungsteilnehmer Gelegenheit hatte, ein Statement in Form eines A4-Blattes zu hinterlassen. Dank dieser Dokumentationen war es nicht nur den regelmäßigen Besuchern und Mitwirkenden, sondern auch dem sporadischen Betrachter möglich, unter dem aktuell Sichtbaren den Abdruck all der Akteure und ihrer Methoden zu erkennen, die hier bereits gewirkt hatten. Ebenso wurde erahnbar, welch unvorhergesehene Wendungen und absurden Haken dieses Projekt zu schlagen im Stande war. Anfangs noch recht zaghaft und vorsichtig nebeneinander platziert, durchdrangen und ersetzten sich die Interventionen bald auf drastische Weise. Der Raum glich einem Palimpsest, einem Blatt, das wieder und wieder überschrieben wird, zu dessen ineinander verschachtelten Textebenen stets neue hinzugefügt werden. Er erzählte keine linear fortschreitende, sinnvolle Geschichte, schon gar nicht handelte es sich um eine ‚stimmige’ Präsentation. Vielmehr formulierte und visualisierte sich hier das Bewusstsein allgegenwärtigen Widerspruchs.
Keine Gewinner und Verlierer sondern Spieler
Ein Ereignis wie Exhibition lebt vom gegenseitigen Austausch darüber, was passiert und warum es passiert. Die Qualität steckt in den Begegnungsmomenten zwischen Beteiligten und Beobachtern, in der Rede und Gegenrede, im nicht müde werdenden Versuch der Verständigung in und über eine disparate Welt. Der immaterielle Fluss von Kommentaren, Gesten und Gesprächen über Praxis und Anspruch des Produzierens brachte immer wieder Interferenzen zwischen den verschiedenen Positionen hervor, die so aufeinander stießen. Die einzelnen Ausstellungsobjekte und -arrangements, die wie Spielsteine in einem „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spiel aneinander vorbeigezogen und irgendwann aus dem Spiel gekickt wurden, sind für sich betrachtet nichts als verstreute Fragmente. Doch in ihrer Überlagerung, im Echo, das zwischen ihnen schwingt, finden sie zu kollektiver Stärke.
Das notwendige Fundament eines solchen Diskurses bilden gegenseitiges Vertrauen, Offenheit und Großzügigkeit. In diesem Sinne wurde das Projekt von den Beteiligten als Lernprozess erfahren: es war eine praktische Übung im zusammen Wirken in einem Bereich, in dem mehr denn je die Position des neoliberalen Einzelkämpfers, der seine Konkurrenten geschickt auszustechen weiß, als die am Ende erfolgreiche und erstrebenswerte gilt.
Betrachten wir Exhibition als Modell einer gemeinsam produzierenden Gesellschaft, wird folgendes erkennbar: das Prinzip von Distanz und Konkurrenz wurde nicht beseitigt, mündete jedoch auch nicht in die nur zu vertraute Vereinzelung, in der jeder abgetrennt vom Anderen agieren muss. Das Schaffen stand als kollektiver Prozess im Mittelpunkt, seine materiellen Resultate dagegen waren nebensächlich. Bestehende Differenzen und Spannungen blieben bestehen und wurden nicht zugunsten der Illusion eines harmonischen Einklangs aufgegeben. Doch stellte sich die Frage nach Dominanz, nach vermeintlicher Stärke und Schwäche anders als wir es aus unserer Alltagserfahrung kennen. Sie zielte nicht auf das Erreichen einer vorrangigen Stellung, sondern auf das Bewusstwerden gegenseitiger Beeinflussung und Verflechtung. Die Idee eines im Wettbewerb stehenden Strebens wurde so auf viel versprechende Weise umgedeutet: nicht nur gegeneinander, sondern gerade darin füreinander anzutreten.
- 1. Vgl. dazu Dorothea von Hantelmann Das Ritual rekonfigurieren, in: Texte zur Kunst Heft 74/2009, S. 61f.