Presseschau Beitrag

Wirtschaftsweise ratlos

Die Krise und die Wirtschaftswissenschaften

In einer dreiteiligen Interviewreihe setzt sich die Sendung »Essay und Diskurs« des Deutschlandradios mit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise und der Lage der Wirtschaftswissenschaften auseinander. Dabei werden sowohl die Selbstwahrnehmung der Disziplin durch viele ihrer Vertreter als auch die vorherrschende Schule der neoklassischen Ökonomik kritisch hinterfragt.

So kritisieren Martin Wolf, Chefkommentator der »Financial Times« und Mitglied des »Institute for New Economic Thinking« (»Institut für neues ökonomisches Denken«) und André Orléans, französischer Ökonom und Mitverfasser des »Manifeste d´économiste atterrés« (»Manifest der bestürzten Ökonomen«), dass die Wirtschaftswissenschaften sich zur Zeit eher als Natur- denn als Sozialwissenschaft verstünden. Daher seien sie blind für die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, behandelten ihre Forschungsergebnisse häufig fälschlicherweise wie naturwissenschaftliche Fakten und erhöben den unerreichbaren Anspruch, die Zukunft des Wirtschaftsgeschehens vorherzusagen. In diesem Zusammenhang kritisiert Wolf vor allem den vielzitierten homo oeconomicus, der ständig rational seine Profitmöglichkeiten kalkuliert und sich an diesen orientiert, als »unerträgliche Abstraktion«.

In diese Richtung geht auch Orléans Kritik, der feststellt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass andere Antriebe als Kosten-Nutzen-Rechnungen kennt. Er geht in seiner Kritik der neoklassischen Theorie jedoch tiefer, indem er auch deren Auffassung von der Entstehung von Werten hinterfragt. Dem neoklassischen Modell von objektiven Werten, die stets einem konkret bestimmbaren Nutzen entsprechen, hält Orléans entgegen, dass der Nutzen, der einem Produkt seinen Wert zuspricht, gesellschaftlich definiert sei. Des Weiteren spricht er im Gegensatz zu den Neoklassikern, für die Geld ein reines Instrument ist, von der »Gewalt des Geldes«. Diese sei darin begründet, dass das Geld Mittel von Machtausübung, Ursache erbitterter Konkurrenz und Hauptbezugspunkt des Individuums sei. Eine »Konsumideologie« sei dafür verantwortlich, dass die Beziehung zwischen Individuum und Geld die Beziehungen zwischen Individuum und Mitmenschen dominierten.

Auch der US-Ökonom James Kenneth Galbraith äußert sich kritisch zur neoklassischen Schule, deren Aussagen er als »barbarische Vereinfachung« bezeichnet. Allerdings seien die Neoklassiker nicht repräsentativ für die amerikanische Wirtschaftswissenschaft, sondern eher an einzelnen selbsternannten und isolierten, aber politisch einflussreichen Universitäten vertreten. Die letzten Jahrzehnte hätten im Zeichen des Missbrauchs staatlicher Macht im Dienste des Raubtierkapitalismus gestanden. So erklärt sich Galbraith die Entstehung der Occupy-Bewegung, die er als neue Stimme im Sinne von »Sitte und Anstand« bezeichnet. Er spricht sich in erster Linie für eine Zerschlagung von Großbanken, eine Verkleinerung und stärkere Regulierung der Finanzindustrie sowie die Kürzung von Bonuszahlungen aus.

Einig sind sich alle drei Interviewten darin, dass die Wirtschaftswissenschaften in Zukunft komplexere Modelle in Bezug auf das soziale und wirtschaftliche Handeln des Menschen entwickeln müssten und ihre Forschungsergebnisse nicht wie naturwissenschaftliche Fakten behandeln dürften. Vor allem Orléans spricht sich für einen Neuanfang und einen radikalen Wandel der Wirtschaftswissenschaften aus.

Kommentare

Bleibt noch, darauf

Bleibt noch, darauf hinzuweisen, dass die Neoliberalen von Hayekscher Prägung der Wirtschaftswissenschaft die Prognosefähigkeit ohnehin absprechen, weil der Markt eine spontane evolutionäre Ordnung ist, deren Ergebnis so wenig vorhersehbar ist, wie das der biologischen Evolution. Neoklassische Modellbildung hat nur die Aufgabe, das Prinzip klarzumachen, nach der die Wirtschaftssubjekte handeln.