Presseschau Beitrag
Zeitenwende in Europa?
Frankreich hat gewählt, François Hollande ist neuer französischer Staatspräsident. Trotz seiner Ankündigung, die europäische Sparpolitik in Frage zu stellen und Reiche stärker zu besteuern, gilt er nicht gerade als ein Revolutionär. Philip Stephens sieht ihn in der Financial Times gar als »moderaten Konservativen«, da er »das Modell der sozialen Marktwirtschaft aus dem Nachkriegseuropa zurückfordert«. Der Autor bezweifelt, daß Hollande sich gegen das Dogma der Sparpolitik durchsetzen kann:
Ob links oder rechts, ob mit oder ohne Euro, die Eliten an der Macht huldigen dem Altar der Sparpolitik. Regierungen dürfen sich hier ein bisschen schräg stellen, dort angedeutete Akzente setzen. Doch niemand wagt es, den Katechismus der Haushaltsdisziplin in Frage zu stellen.
Dem setzt Javier Valenzuela in El País entgegen, daß es Zeiten gebe, in denen schon gesunder Menschenverstand revolutionär anmute. Denn Hollande stemme sich gegen den wirtschaftspolitischen Selbstmord Europas, von der Sparpolitik verursacht. Diese sei das Resultat einer falschen Diagnose. Die Wachstumsschwäche Europas sei vielmehr das eigentliche Problem und nicht die Verschuldung.
Philipp Wittrock sieht auf Spiegel Online die erste Auseinandersetzung zwischen zwischen Hollande und Merkel voraus. Die deutsche Kanzlerin wolle Wolfgang Schäuble als Chef der Euro-Gruppe installieren. Hatte Sarkozy dem noch zugestimmt, werde Hollande hier kaum einem weiteren Protagonisten zur Stärkung der deutschen Europolitik tragen.
Bernard Schmid merkt auf Telepolis an, daß Hollande verstärkt von den einkommensschwachen Schichten gewählt worden ist. Dennoch sei mit einer radikalen Wende nicht zu rechnen. Dafür liegen zu viele Entscheidungsfaktoren »in privaten Händen«, die bereits der Präsidentschaft François Mitterrand nach einem Jahr den reformerischen Wind aus den Segeln nahmen. Die einzigen echten Reformversprechen – Investitionen in die Bildung und Besteuerung der Reichen – seien eher der Dynamik des Wahlkampfes denn dem politischen Willen Hollandes zuzurechnen.
Kommentar
Bislang wird die Eurokrise durch konservative Mehrheiten und Regierungen geprägt. Aktuell wurden alle großen Staaten in Europa konservativ regiert, ähnlich sehen die Mehrheiten im europäischen Parlament aus. Deren Antwort auf die Krise der Gemeinschaftswährung ist ein Spardiktat – auch außerhalb des Euroraumes, wie in Großbritannien. Insofern wäre es verkürzt, diese Politik nur der deutschen Regierung anzukreiden. Vielmehr ist bei einer solchen Konstellation der Machtverhältnisse eine an Investitionen und Ausgleich orientierte Finanzpolitik kaum zu erwarten. Dies liegt nicht einfach am Konservativismus selbst, sondern an dessen Hörigkeit gegenüber den monetaristischen Eliten im staatlichen und privaten Finanzsektor. Die Banken wollen möglichst billig davonkommen, während die Bundesbanker in einem Finanzausgleich den Beelzebub erkennen.
Woher soll also eine echte Opposition zu der Politik dieser Eliten kommen? Eine alternative Europapolitik wird kaum in der Peripherie wie in Griechenland formuliert werden, sondern in den zentralen Staaten. Auf parlamentarischer Ebene kann in Europa von echter und lebendiger Demokratie keine Rede sein: Ideen und Impulse für eine alternative Finanzpolitik sind im EU-Parlament kaum erkennbar. Daher konzentrieren sich die Hoffnungen auf eine politische Zeitenwende in Europa auf den französischen Präsidenten. Er kann die aktuelle Sparpolitik wirksam blockieren. Für einen Gegenentwurf braucht er jedoch Mehrheiten in Europa. Diese wird er aber nur erreichen, wenn er klare Konzepte vorschlägt, welche von der Opposition in den benachbarten Staaten aufgegriffen und getragen werden – diese gar selbst an die Macht führen. Bislang ist aber weder ein Konzept für einen wirtschaftlichen Ausgleich im Staatenbund erkennbar, noch die Bereitschaft dafür zu zahlen. Von Mehrheiten ganz zu schweigen.