Magazin Beitrag

Verdrängte Wanderer

Das dunkle Kapitel der europäischen Migrationspolitik (Teil I)
Vom Regen unterspülter Grenzzaun in Mellila
Vom Regen unterspülter Grenzzaun in Mellila Bild von noborder network

Zahllose Migranten sind auf dem Weg nach Europa. Ungezählt sind jedoch vor allem diejenigen, welche nicht ankommen, weil sie auf dem Weg irgendwo stecken bleiben: In Lagern nordafrikanischer Staaten, in der Wüste, oder weil sie im Meer ertrinken. Schätzungen sprechen von weit über zehntausend Toten allein im in den vergangenen 20 Jahren. In Europa leben Millionen Migranten mit oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus; dagegen ist die Migration in afrikanische und asiatische Nachbarländer weit umfangreicher als nach Europa. In Europa ist die vorherrschende Antwort bisher die Politik der Abschottung: Von einer politischen Auseinandersetzung mit den Gründen dieser neuen Völkerwanderung kann bislang keine Rede sein.

Dabei ist dieses Phänomen so alt, wie der Mensch über zwei Beine verfügt. Erst durch sie sesshafte Kultur erscheint die Suche nach einem neuen Zuhause als  fremd. Die Völkerwanderung liegt länger zurück als die Auswanderungswellen, welche heute den amerikanischen Kontinent prägen. Heute dagegen erscheint vielen Europa als Ort der Sehnsucht. Der Staatenbund hat darauf aber keine andere Antwort gefunden als Barrieren der Abschreckung zu errichten. Migration wird im herrschenden politischen Diskurs nur dann als legitim angesehen, wenn hochqualifizierte Fachkräfte unserer Wirtschaft dienen; ansonsten wird ein Bild der Bedrohung vor den Mengen an Zuwanderern an die Wand gemalt und Fremdenängste angeheizt.

Die Motive für Migration sind so vielfältig wie die Menschen, die sie riskieren: Von der Hoffnung auf ein besseres oder anderes Leben, über wirtschaftliche Not zu schlichter Flucht vor Hunger, Mord, Krieg und Unterdrückung. Aber als Gründe für den Aufbruch nach Europa überwiegen der gewaltige wirtschaftliche Unterschied zum vorderasiatischen und afrikanischen Raum sowie die teils unmenschlichen Lebensbedingungen durch Kriege und äußerste Armut. Die Grenze zwischen Flucht und Auswanderung aus freien Stücken ist kaum zu ziehen.

Auf der anderen Seite tragen Transferzahlungen von Migranten – meist an Familienmitglieder – in vielen Ländern einen nicht unwesentlichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt und somit zur wirtschaftlichen Stabilität ihrer Herkunftsländer bei.

Die Migration ist verbunden mit drängenden Problemen unserer Zeit: Ressourcenknappheit, Klimawandel, Armut und Korruption in vielen Ländern, und nicht zuletzt zahlreichen Bürgerkriegen wie in Somalia oder Afghanistan. Auf internationaler Ebene wurden keine Antworten auf Klimawandel und Wirtschaftskrise gefunden. Daher verwundert das Fehlen eines klaren Konzepts in der Migrationspolitik nicht. Im Gegensatz zu den anderen Grundproblemen unserer Zeit wird die Migration als politische Frage in Europa schlicht verdrängt –- und keineswegs als eine Herausforderung anerkannt. So sind Weltmigrationsgipfel im Lichte einer kritischen, interessierten Öffentlichkeit – anders als Klimagipfel –- bislang unbekannt, obwohl sie mit den Feldern Wirtschaft und Klima eng verknüpft sind.

Abwehr statt Regulierung

In der europäischen Politik ist Zuwanderung aber keine Frage der Regulierung im Rahmen der Menschenrechte, sondern der Abwehr –- den Verstoß elementarer Menschenrechte in Kauf nehmend. Dabei wird diese Abwehr so weit wie möglich nach außen vorgelagert: So wurden zahlreiche Kooperationsabkommen mit nordafrikanischen Staaten geschlossen, welche unter anderem die Internierung in Lagern in der Wüste zu Folge hatten.1 Oder durch die Grenzschutzagentur Frontex, welche mit ihrer logistischen Unterstützung dafür sorgt, daß europäische Grenzschützer Rechtsverstöße auf hoher See außerhalb der Hoheitsgebiete vornehmen.

Diese Verdrängung der Flüchtlingspolitik nach außen beginnt aber schon innerhalb Europas. Denn durch die »Drittstaatenregelung« können Migranten nur in dem Staat der ersten Einreise in der Europäischen Union Asyl beantragen. Dadurch wird die Handhabung der Einwanderung weitgehend an die europäischen »Grenzstaaten« wie Griechenland, Spanien und Italien ausgelagert, die mit der Situation überfordert sind und sich zu einer rigiden Abwehr genötigt sehen. Somit ist es die eigene »Schuld« dieser Staaten, wenn sie überhaupt jemanden ohne gültiges Visum über ihre Grenzen lassen. Die »Kernstaaten«, die dadurch deutlich weniger Einwanderung erfahren, helfen dafür großzügig beim Grenzschutz. Diese zynische Regelung ist 2003 als Dublin-II-Verordung beschlossen worden, Vorbild war die deutsche Drittstaatenregelung. Der damalige deutsche Bundesinnenminister Otto Schily hat maßgeblich an der Durchsetzung dieser Regelung mitgewirkt. Als sichere Drittstaaten, in die abgeschoben werden darf, werden aber mittlerweile auch Staaten weitab von Europa gesehen. Die Barrieren werden so weit wie möglich nach außen verlagert, wo die europäische Öffentlichkeit nicht mehr hinschauen kann.

Im vergangenen Jahr wurde ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt, in dem ein Asylbewerber gegen seine Ausweisung nach Griechenland klagte, da er dort keine Chance auf ein ordentliches Verfahren hat. Griechenland
verfügt über kein Asylsystem, das diesen Namen verdient. Hohe Erwartungen waren an das Verfahren geknüpft: Denn nicht wenige Beobachter erwarteten ein Grundsatzurteil, das zumindest die gängige Praxis in Frage stellt und eine Debatte anstößt. Leider hat Karlsruhe eine Hintertür gewählt, um sich einmal mehr vor dieser Frage zu drücken. Der Bundesinnenminister hatte die Ausweisung nach Griechenland ausgesetzt, weshalb Karlsruhe keinen Klärungsbedarf sah.

Der Zweite Senat hat keinen Anlass gesehen, das Verfahren zur Klärung lediglich abstrakter, gegenwärtig nicht aktueller Fragen des nationalen Verfassungsrechts fortzuführen.2

Eine Neuordnung der Asylpolitik wurde dadurch erst einmal ausgesetzt.

Erdbeeren-Pflücker in Griechenland Bild von noborder network

Zugleich ist die Flüchtlingspolitik aber von einer gewissen Doppelmoral gekennzeichnet. Denn obwohl die europäische Migrationspolitik den Namen nicht verdient, sondern vielmehr Migrationsabwehr genannt werden sollte, gelingt es nicht, die Tore komplett zu schließen. Doch dies ist im Rahmen eines ausbeuterischen Lohndumpings durchaus gewollt. Der Markt für in Europa gehandelte Agrarwaren wie Obst, aber auch das Baugewerbe ist ohne die Billiglöhne der Einwanderer nicht denkbar. Diese verfügen aber aufgrund ihres zweifelhaften Aufenthaltsstatus meist über keine Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt. Insofern wird die Migration geduldet und genutzt, ohne daß auf europäischer Ebene ein echter Arbeitnehmerschutz erwägt wird.

Zumindest in Deutschland berichten die Medien hin und wieder über diese Mißstände; dabei werden die Menschenrechtsverletzungen aber selten als europäisches Problem betrachtet. Von einer gesellschaftlichen oder politischen Auseinandersetzung kann aber jenseits der Integrationsdebatten kaum die Rede sein. Betrachtet man den Inhalt von Foren der Medienberichterstattung, so taucht häufig die Argumentation auf, daß ja niemand die vielen Flüchtlinge aufnehmen kann. Dabei wird die Anerkennung eines globalen Problems verweigert, aus der neue Lösungen erwachsen können. Genau diese prinzipielle Abwehrhaltung aber kennzeichnet die europäische Politik. Jede Diskussion über Alternativen wird bestenfalls als Aufweichung der Trutzmauer Europas gesehen. Die unzähligen Menschenrechtsverletzungen und Toten jedoch konterkarieren Europas Verständnis als Wertegemeinschaft. Diese Mißachtung der Menschenrechte wird aber auch nach innen wirken.