Presseschau Beitrag

Taumeln am Abgrund

Der Journalist Tariq Ali besucht den krisengeschüttelten Jemen
Shibam: "In dieser Stadt wurden kürzlich vier südkoreanische Touristen getötet, als sie die Stadt von einem Hügel aus fotografieren wollten." <br/>Foto von Raphaël Fauveau
Shibam: "In dieser Stadt wurden kürzlich vier südkoreanische Touristen getötet, als sie die Stadt von einem Hügel aus fotografieren wollten." Foto von Raphaël Fauveau

Der als Unterhosenbomber bekannt gewordene Nigerianer Umar Farouk Abdulmutallab hat dem Jemen einen kurzen Zeitraum  der Aufmerksamkeit in den westlichen Medien geschenkt – da er mutmaßlich nahe der Hauptstadt Sana'a für den Anschlag ausgebildet wurde. Allerdings war die Berichterstattung von kurzer Dauer, und hat wenig zur Aufklärung beigetragen: weder zum radikalen politischen Islam noch zur Geschichte und der Probleme des Landes im Südwesten der arabischen Halbinsel. Insofern ist die Reportage des britischen Journalisten und Historikers Tariq Ali umso lesenswerter. Für den zunächst im London Review of Books, nun auf Deutsch in der Le Monde diplomatique erscheinenden Beitrag reiste er in den Jemen und befragte zahlreiche Politiker und Journalisten.

Tariq zeichnet ein anderes Bild des Landes und blickt auf dessen Geschichte zurück: auf die koloniale Vergangenheit, die Spaltung des Jemen und den Bürgerkrieg in den 60er Jahren. Al-Qaida  sei eher ein Randphänomen, die inneren Probleme des Landes seien andere. Denn der korrupte Präsident Ali Abdullah Saleh gefährde die Einheit des Landes. Den Aufstand in der nördlichen Provinz Sa'ada deutet der Autor als Selbstverteidigung gegen wahhabitische Prediger aus Saudi-Arabien, welche die Regierung mit brutalen Mitteln zu unterdrücken versuche:

Im August 2009 zerstörte die jemenitische Armee in einer Art »Operation Verbrannte Erde« viele Dörfer und zwang 150 000 Menschen zur Flucht. Über die Grausamkeiten der Regierungssoldaten erfährt die Welt nichts, weil die Regierung eine Informationssperre verhängt und Hilfsorganisationen aus der Region verbannt hat.

Journalisten, die darüber berichten, werden inhaftiert und gefoltert. Zugleich sei der vormals unabhängige Süden nach der Wiedervereinigung benachteiligt. Die Regierung habe keinen inneren Ausgleich zwischen den Landesteilen erreicht. Mittlerweile wünschten sich viele im Südjemen die Unabhängigkeit zurück. Der Kurs des Präsidenten führe in einen Bürgerkrieg.

Über Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP), welches das ursprüngliche Objekt der Neugier des Autoren war, erfährt man allerdings reichlich wenig. Im Jemen kursiere das Gerücht, der Verein sei ein Instrument in der Hand des Präsidenten, durch das Innenpolitik legitimiert werden kann sowie Gelder von den Amerikanern zu bekommen sind. Ein unerhörter Vorwurf, der allerdings von Ereignissen wie der seltsamen Flucht von Al-Qaida Verdächtigen aus einem Hochsicherheitsgefängnis 2006 gestützt wird.