Magazin Beitrag
Der grüne Faktor
Viel ist in den vergangenen Tagen von der Option Rot-Rot-Grün gesprochen und geschrieben worden. Es scheint, als habe sich die SPD mittlerweile dazu durchgerungen, eine Koalitionsoption mit der Linken künftig nicht mehr kategorisch ausschließen zu wollen. Wer nun bereits frohlockt, dass es mittel- bis langfristig eine strukturelle linke Mehrheit als Alternative zur CDU geben könne, verdrängt dabei jedoch einen entscheidenden Faktor: Die Grünen sind momentan dabei, sich neu aufzustellen. Ginge es nach dem mächtigen Realo-Flügel, sollen sich die Grünen zu einer Art ökologisch angehauchten libertären Partei entwickeln, die große Schnittmengen mit der CDU hat und das Vakuum ausfüllt, dass die FDP hinterlassen hat. Sollte der „Putsch“ gelingen, würden die Grünen das linke Lager verlassen und mittel- bis langfristig nicht auf rot-rot-grün, sondern auf schwarz-grün zusteuern.
„Alle Parteien machen ihren Wählern was vor, aber es gibt keine Partei, die eine so grandiose Differenz zwischen ihrem Image und ihrer Realität hat“, so die Ex-Grüne Jutta Ditfurth. Wer sich die jüngere Geschichte der Grünen anschaut, muss Ditfurth Recht geben. Die Politik der Grünen ist im Kern genau so postmaterialistisch und konservativ wie ihre Wähler. Wurden die Grünen in ihrer Frühzeit überdurchschnittlich häufig vom untersten Einkommensfünftel gewählt, so gehören heute die oberen zwei Einkommensfünftel zur Stammwählerschaft der Grünen. Die rebellischen Studenten von einst, sind nicht nur älter, sondern auch satter und selbstzufriedener geworden. Ging man früher gegen den NATO-Doppelbeschluss und für eine klassenlose Gesellschaft auf die Straße, kämpft man heute für verkehrsberuhigte Zonen in gehobenen Stadtvierteln und die steuerliche Förderung von Solarzellen auf den schicken Einfamilienhäusern.
Die „neue Bürgerlichkeit“ hat die Kinder des Bürgertums mit ihren Eltern versöhnt oder wie es der verstoßene Ex-Grüne Oswald Metzger einst formulierte: „Die Grünen nähern sich habituell ihren Herkunftsfamilien an”. Einst bliesen die Grünen zum Marsch durch die Institutionen, um die Gesellschaft zu verändern. Der Marsch ist angekommen, nur hat die Gesellschaft die Marschierenden verändert. Der Parteienforscher Franz Walter beschrieb den Wandel der Grünen vor vier Jahren folgendermaßen: „Die Grünen von 2009 sind so, wie die Grünen 1983 die CDU beschrieben haben: furchtbare Bürger, elitär, selbstgefällig.“ Wer in einer satten Gesellschaft an den Futtertrögen sitzt, entfernt sich von materiellen Forderungen wie der Verteilungsgerechtigkeit und wendet sich abstrakten Werten wie Umweltschutz oder Klimapolitik zu.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Grünen in diesem Jahr mit einem durchaus ambitionierten Programm in den Wahlkampf gegangen sind, das im Kern durchaus auf materielle Forderungen setzte und die Verteilungsgerechtigkeit thematisierte. Da die Grünen aber gerade eben mit diesem vergleichsweise linken Programm baden gingen, wittert der rechte Parteiflügel, die sogenannten „Realos“, nun Morgenluft.
Die Grünen als neue FDP
Den Anfang machte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der in einem Kommentar auf SPIEGEL Online das Wahlprogramm seiner Partei scharf kritisierte und empfahl, sich wirtschaftsfreundlicher zu orientieren. Palmer, der auch der Meinung ist, dass die Grünen mit ihrem Wahlprogramm einen „Klassenkampf“ angefangen hätten, kritisierte dabei auch die „ausgeprägte Staatsorientierung“ und mahnte „glaubwürdige Rekurse auf freiheitliche und libertäre Denkschulen“ an. Bemerkenswert ist, dass Palmer nicht von liberalen, sondern von libertären Denkschulen spricht. Diesen Begriff griff auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir an diesem Wochenende auf. Özdemir. der aus den Grünen nun „die Partei der Freiheit“ machen will, begründete den seines Erachtens „dringend nötigen Kurswechsel“ damit, dass die Partei „ihre eigenen libertären Wurzeln wieder suchen müsse“. Fast wortgleich beklagte auch der frühere Parteichef Reinhard Bütikofer, die Grünen hätten „ihre libertären Wurzeln vernachlässigt“. Nun muss man wissen, dass die politische Philosophie des Libertarismus eine weitgehende Beschränkung des Staates in allen Bereichen fordert und damit die politische Weiterentwicklung des Neoliberalismus darstellt. Bislang hatte lediglich die FDP eine „libertäre Plattform“, in der sich die marktliberalen Ultras der Partei sammelten. Wenn drei grüne Spitzenpolitiker binnen weniger Tage unisono eine libertäre Ausrichtung der Partei fordern, ist dies eine sehr beunruhigende Entwicklung.
Schützenhilfe bekamen die „Realos“ auch von Joschka Fischer, der in einem Gastartikel in der Süddeutschen Zeitung die „Linksverschiebung“ der Grünen kritisierte und seiner Partei empfahl, „sich der Realität zu stellen“ und weiter sich stärker zur Mitte zu orientieren.
Diese Position vertritt auch Kerstin Andreae, die sich um das Amt der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag bewirbt. Andreae gehörte zu den wenigen Spitzenpolitikern der Grünen, die das Wahlkampfprogramm schon vor den Wahlen scharf kritisierten. Andreae, die auch die Hartz-Gesetze verteidigt, beklagt, dass den Grünen „der Gesprächsfaden zu den Unternehmen abhanden gekommen ist“ und fordert ebenfalls eine Neuausrichtung hin zur politischen Mitte. Ins selbe Horn blasen auch der Stuttgarter OB Fritz Kuhn und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Realo-Scheinriesen aus Baden-Württemberg
Die Reihe der „Realos“ sind geschlossen und sollten sie sich innerhalb der Partei durchsetzen, würden die Grünen einen bemerkenswerten Rechtsrutsch im politischen Koordinatensystem vollführen. Der Vollständigkeit halber muss man jedoch auch erwähnen, dass die – größtenteils aus Baden-Württemberg stammenden – „Realos“ zwar die Gunst der Stunde im Rücken haben, innerhalb der Partei und vor allem bei der Parteibasis jedoch auf herben Widerstand stoßen könnten. Denn auch der Höhenflug der baden-württembergischen Realos hat am Wahlsonntag ein jähes Ende genommen. Konnten die Grünen bei den Bundestagswahlen 2009 im „Ländle“ trotz starker FDP noch 13,9% der Zweitstimmen holen, so schrumpften sie in diesem Jahr auf klägliche 11,0% und sind damit meilenweit von ihrem Rekordergebnis von 24,2% bei den Landtagswahlen vor zwei Jahren entfernt.
Obgleich Kretschmann und Co. dafür das „linke Wahlprogramm“ verantwortlich machen, so dürfte wohl eher das Versagen der Grünen bei Stuttgart 21 dafür verantwortlich sein, dass die Südwest-Grünen nun wieder auf dem Boden der Tatsachen aufgeprallt sind. Nicht alle Wähler der Grünen wollen, wie es Jutta Ditfurth einmal treffend ausdrückte, betrogen werden.
Ausgang offen
Es ist müßig, darüber zu debattieren, ob die Grünen das Vakuum der FDP füllen oder eine grün-getünchte konservative Partei werden und damit auch nachhaltigen Erfolg beim Wähler haben können. Entscheidend für die Zukunft der Grünen dürfte dabei der eilig anberaumte Parteitag am 19. und 20. Oktober sein, auf dem die Partei ihre neue Führung wählt und ihren künftigen Kurs absteckt. Sollten sich Özdemir, Palmer, Andreae, Kretschmann und Co. nicht nur personell, sondern auch inhaltlich durchsetzen, stünden die Zeichen auf schwarz-grün – vielleicht sogar schon jetzt als Alternative zur Großen Koalition.
Rot-rot-grüne Träume wären mit derart „neu-bürgerlich“ aufgestellten Grünen, die die FDP ersetzen wollen und an „libertäre Werte“ appellieren, erst einmal ausgeträumt. Zwischen dem rechten Flügel der Grünen und dem linken Flügel der Linken gibt es nur sehr wenige Schnittmengen. Die Perspektive Rot-Rot-Grün droht nicht an der SPD oder den Linken zu scheitern. Der „grüne Faktor“ ist es vielmehr, der hier zum Störfaktor werden könnte. Und diese Nachricht dürfte vor allem Angela Merkel ein schwarz-grünes Lächeln ins Gesicht treiben.