Magazin Beitrag
Nepal nach dem Bürgerkrieg
Nepal ist für Freunde des Hochgebirges als Urlaubsziel bekannt. Auch Indien-Reisende machen gerne einen Abstecher über die Grenze. Was viele nicht wissen: In dem asiatischen Staat im Himalaya tobte von 1996 bis 2006 ein Bürgerkrieg zwischen der ehemaligen Regierung unter König Gyanendra und maoistischen Rebellen. Mehr als 12.000 Menschen starben, viele werden noch vermisst. Nachdem das Staatsoberhaupt sich gegen seine Regierung gestellt hatte, stürzten die Parteien gemeinsam mit den Maoisten die Monarchie. Sie unterzeichneten einen Friedensvertrag.
Der Bürgerkrieg in Nepal ist somit zwar vorbei, doch viele Probleme sind geblieben – und neue sind hinzugekommen. Seit dem Friedensschluss tanzen die Maoisten und die übrigen Parteien um den heißen Brei herum. Sie blockieren sich in wichtigen Fragen, um sich Macht zu sichern. Der Staat versagt den Opfern von Gewalt zumeist den Zugang zur Rechtsprechung. Grundsätzlich gilt in Nepal: Wer Straftaten begeht oder begangen hat, muss nicht zwangsläufig mit einem strafrechtlichen Verfahren rechnen, geschweige denn mit einer Verurteilung.
Gemeinsam mit anderen jungen Leuten aus aller Welt, verbrachte ich 15 Monate in einer abgelegenen Region des Himalaya-Staates. Dort arbeitete ich für die Friedens- und Menschenrechtsorganisation peace brigades international (pbi). Dieser zweiteilige Beitrag handelt von unserer Arbeit. Vielmehr rückt er jedoch das Schicksal von Krishna Bahadur Sunar in den Vordergrund, der im März 2010 seine Frau und seine Tochter verloren hatte.
Besuch bei Krishna
Emma Jansen aus den Niederlanden und die Frauenrechtlerin Bimala atmeten schwer. Es ging steil hinauf. Schweiß und Staub legten sich auf die Kleidung und verklebten die Augen. An einer kleinen Quelle mitten im Wald hielten wir kurz an um uns zu erholen. Das kühle Wasser erfrischte uns – selbst im Schatten der drückenden Mittagssonne waren es über 40°C. Nach einer langen Fahrt über holprige Straßen mit einem Geländewagen, marschierten wir bereits einige Stunden über einen abgelegenen Trampelpfad. Autos fuhren hier nicht. Und auch andere Menschen trafen wir kaum. Wir waren mitten im Wilden Westen Nepals – genau genommen im Distrikt Surkhet, etwa 15 Busstunden südwestlich der Hauptstadt Kathmandu.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir eine kleine Siedlung. Unser eigentliches Ziel, die Hütte von Krishna Bahadur Sunar, lag weitere drei Stunden entfernt in einem tiefen Tal. Wir mussten die Nacht also im Dorf verbringen, denn in der Nacht wäre der Weg durch das Unterholz zu gefährlich gewesen. Nach höflichem Begrüßen und einer kleinen Stärkung saßen wir schnell mit dem Dorfrat zusammen. Deren Oberhaupt überbrachte uns schlechte Nachrichten: Regelmäßig trieben sich in diesen Tagen Spitzel der nepalesischen Armee (NA) herum. Alle in der kleinen Gemeinde fürchteten sich inzwischen vor den fremden Männern: „Die Militärs wollen uns einschüchtern, damit wir uns ihnen nicht in den Weg stellen“, sagte einer der Dorfältesten. „Und Krishna“, fragte Bimala, „lässt er sich auch einschüchtern?“. Der Befragte nickte stumm, während die Aktivistin sich vor Enttäuschung auf die Lippe biss.
Nach einer sehr kurzen Nacht auf dem blanken Bretterboden des „Gasthauses“, welches auch die Hühner und Ziegen nutzten, machten wir uns im Morgengrauen auf den Weg. Bimala hatte den Ärger des Vorabends noch nicht verwunden und schimpfte: „Wie können wir für Gerechtigkeit kämpfen, wenn Krishna seine Anzeige gegen die Soldaten zurückzieht? Verfluchte Ungerechtigkeit in diesem Land. Und immer trifft es die aller Schwächsten“. Juristische Konflikte lösen die Nepalesen häufig anders als in einem funktionierenden Rechtsstaat. Oft handeln Mediatoren Lösungen zwischen den Betroffenen aus – zwischen Tätern und Opfern. Wer mehr Macht besitzt, sitzt natürlich am längeren Hebel. Gesellschaftliche Randgruppen haben dabei wenig Aussicht auf einen fairen Handel: Krishna gehört der Kaste der „Unberührbaren“ (Dalits) an. Die steht in der Hierarchie des hinduistischen Gesellschaftssystems an unterster Stelle.
Als wir am Vormittag das kleine Haus im Tal erreichten, begrüßte uns Krishnas Vater: „Krishna ist noch unten im Reisfeld“, rief er uns freundlich zu. Während wir es uns auf dem Boden gemütlich machten und auf den Tee warteten, erklärten wir dem Mann, weshalb wir gekommen waren. Wie bei einem offiziellen ersten Treffen üblich, stellten wir uns und unsere Organisation vor. „Und ihr denkt, ihr könnt Krishna tatsächlich gegen die Armee schützen?“, fragte der alte Mann skeptisch. Emma erwiderte aufmunternd: „Eine volle Garantie gibt es natürlich nicht. Dennoch wirkt unser Ansatz zur Abschreckung von Gewalt in Nepal bisher sehr gut. Wir bieten Schutzbegleitung an. Das heißt, Krishna kann von uns Tag und Nacht begleitet werden. Weil wir als unparteiisch wahrgenommen werden und gute Arbeitsbeziehungen zu Polizei und Militär sowie zu den Maoisten unterhalten, werden wir ernst genommen. Wenn jetzt die bösen Männer der Armee Gewalt gegen Krishna anwenden wollen und uns sehen, dann trauen sie sich nicht. Sie denken, sie haben zu viel zu verlieren.“
Auch wenn Emma dies alles in einer sehr einfachen Sprache erklärte, wurde nicht ganz klar, ob Krishnas Vater ihre Worte verstanden hatte. Bimala fügte hinzu, dass man Gerechtigkeit nur erreiche, wenn die Opfer den Mut aufbrächten, sich gegen Täter und Gewaltverbrecher zu stellen: Man müsse gemeinsam kämpfen. In diesem Moment kam ein ausgemergelt aussehender Mann aus den Büschen hervor. Es war Krishna. Seine blutunterlaufenen Augen hatten sich tief in die Höhlen zurückgezogen. Für einen Moment starrte er uns beinahe erschrocken an.
Der Mord im Nationalpark
Krishna hatte Furchtbareres erlebt. Auch wenn wir bereits aus den Medien und durch viele Treffen mit Vertretern diverser Organisationen gut über den Fall informiert waren, erzählte uns der Familienvater seine Geschichte: „Ich verbrachte einige Tage mit anderen Dorfbewohnern im nahe gelegenen Bardiya Nationalpark. Dort sammelten wir Feuerholz und Kaulo, das man für die Herstellung von Medizin verwendet. Eines Abends, kurz vor dem Schlafen gehen, hörte ich ein Geräusch ganz in der Nähe im Wald. Holz flog heran, Taschenlampen leuchteten grell auf – ein Dutzend Soldaten hatten uns umzingelt. Sie riefen, sie würden uns erschießen, sollten wir versuchen zu fliehen. Als sie einige Male blind in die Luft feuerten, rannten wir in alle Himmelsrichtungen davon. Mir gelang die Flucht. Doch meine Frau, meine Tochter und meine Schwägerin entkamen ihnen nicht.“
Als er die angsterfüllten Schreie seiner Tochter hörte, sei er zurück zur Lagerstätte gegangen um zu helfen. Dort hätten ihn die Soldaten direkt verhaftet. Was dann geschah, was die Soldaten mit ihren schutzlosen Opfern machten, habe er nicht sehen können, sagte Krishna mit Tränen in den Augen. Wir ließen ihm ein wenig Zeit, bevor wir das Gespräch weiter führten – die heiße Luft um uns herum schien immer schwerer zu werden. Fliegen umkreisten brummend einige Essensreste.
Eine der ersten offiziellen Untersuchungen wurde bereits zwei Tage nach dem Vorfall am 12. März 2010 von der nepalesischen Menschenrechtsorganisation INSEC durchgeführt: Die beiden Frauen Devisara Sunar und Amrita Sunar sowie das 12-jährige Mädchen Chandrakala Sunar hätten sich zunächst in einer Höhle versteckt. Dort wären sie von den Soldaten verhafteten worden. Aus dem Untersuchungsbericht geht zudem hervor, dass Zeugen in jener Nacht keine weiteren Schüsse mehr gehört hätten. Erst am darauffolgenden Tag wieder habe man den Knall von abgefeuerten Kugeln durch die Baumriesen hinweg mehrfach vernommen.
Verschleierungstaktik der nepalesischen Armee
Der Bericht von INSEC lässt keinen Zweifel: Alles deutet auf vorsätzlichen Mord an den drei Personen. Zwei Wochen nach dem Vorfall forderte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) in Nepal vollständige und unabhängige Untersuchungen durch die nepalesische Polizei und die Nationale Menschenrechtskommission (NHRC). Man rief die Armee zu uneingeschränkter Kooperation auf. Kurz darauf bestätigte NHRC, dass die Opfer durch Personal der nepalesischen Armee getötet wurden und forderte Konsequenzen für die beteiligten Soldaten und deren Kommandant Subodh Kunwar. Der Fall solle in einem Zivilgericht verhandelt werden.
Die Generäle dachte nicht daran, ihr Personal auszuhändigen. Unmittelbar nach dem Vorfall hatten sie ihre Version des Vorfalls veröffentlicht – im übrigen deckungsgleich mit dem Polizeibericht: Die Toten gehörten einer bekannten Gruppe Wilderer an. Sie hätten Kleinwaffen bei sich getragen und das Feuer auf die Soldaten eröffnet. Der Trupp habe sich lediglich verteidigt und im Anschluss die Leichen und die Waffen der Wilderer sichergestellt. Diese Version widersprach offensichtlich den Aussagen der Zeugen. Krishna, der sich ein wenig erholt hatte, berichtete: „Wir hatten nur unsere Äxte und einige Sicheln dabei. Wir besitzen überhaupt keine Schusswaffen. Und womit sollten wir die Munition bezahlen? Glaubt jemand ernsthaft meine 12-jährige Tochter hätte eine Waffe benutzen können?“ Im Gefängnis, so erzählte der nepalesische Bauer weiter, zwangen die Soldaten ihn schließlich, den Polizeibericht zu unterschreiben – die Version der Armee.
Krishna's Vater, der kurz im Haus verschwunden war, kam zurück in unsere Runde und setzte sich neben mich. Ich fragte ihn nach den Einschüchterungsversuchen der Armee. „Sie waren einige Male hier. Als sie meinen Sohn aus dem Gefängnis entließen, gaben sie ihm 20.000 Nepalesische Rupee (Rs). Sie sagten zu ihm, er dürfe niemandem die Wahrheit sagen. Wenn er sich daran halte, würde man ihm weitere 55.000 Rs (770 US$) geben“, erläuterte der alte Mann. In einer offiziellen Stellungnahme vom 20. Mai 2010 machte die nicht-staatliche Asian Human Rights Commission deutlich, welcher Methoden sich die NA bediente, um den Fall unter den Teppich zu kehren: Verfälschung von Beweisen am Tatort, Beeinflussung der Untersuchungen der Polizei sowie massive Einschüchterung der Zeugen und der Familien der Opfer.
Gestärkt durch die Veröffentlichungen der verschiedenen Untersuchungskommissionen und die Arbeit der Menschenrechtsverteidiger fasste die Familie nun doch Vertrauen, um gegen die Armee und für ihr Recht zu kämpfen. Sie reichte Anzeige wegen Mord und Vergewaltigung gegen die 15 Soldaten ein. „Nachdem wir die Anzeige stellten, nahm der Druck der Armee wieder stark zu“, sagte Krishna. „Sie drohten uns mit Haft und sagten, wir bekämen kein Geld. Was hätten wir denn tun sollen? Sie boten uns finanzielle Unterstützung an und wollten die Anzeige gegen uns wegen Wilderei zurückziehen“, Krishna senkte den Kopf. „Und da habt ihr das Angebot angenommen?“, fragte Bimala. „Was hätten wir denn tun sollen?“, wiederholte er leise.
Erneuter Kampf für Gerechtigkeit?
Emma hatte wenige Tag vor dem Besuch bei Krishna noch mit leichtem Fieber im Bett gelegen. Mir rumorten die Parasiten seit Wochen im Magen herum. Doch als Bimala uns beauftragte, sie zu dem entlegenen Dorf zu begleiten, waren die Wewehchen schnell vergessen. Die Morde im Bardiya Nationalpark waren seit Wochen das Politikum in Nepal und darüber hinaus. Nachdem wir die Entscheidung getroffen hatten, Bimala in das Dorf zu begleiten, wollte jeder im Team mit auf den abenteuerlichen Trip. Schließlich waren es auch und gerade solche Fälle – die mit hohem Profil und internationaler Tragweite – weswegen wir die Arbeit voller Herzblut machten. Erst später sollte uns klar werden, in was wir uns hinein begeben hatten.
Wir gehen aber zunächst noch einmal zurück zu dem Gespräch mit Krishna und seinem grauhaarigen Vater, der uns so traurig und doch beinahe liebevoll anschaute. Während einer kleine Pause vertrat ich mir kurz die Beine und schaute mich um – die Gedanken kreisten. Vor mir senkte sich das Tal weiter hinab in immer grünem Baumwuchs, hinein in die Terrassen der Reisfelder. Einige Hunde lagen verträumt im Schatten der umliegenden Büsche. Eine romantische Idylle und doch springt einem die Armut und das Leid in jede Pore und hinterlässt Wut.
Krishna hatte uns vorher erzählt, wie schwer das Leben vor den Morden bereits gewesen war: „Das Kaulo, welches wir im Wald regelmäßig sammeln, verkaufen wir. Von den kleinen Einnahmen leisten wir uns hin und wieder etwas Fleisch. Die Kinder gehen nicht zur Schule, Arbeit hat niemand.“ Nach den Morden habe sich das Leben weiter verschlechtert, fuhr der Witwer fort. „Ich kann die notwendigen Aufgaben in Feld und Heim kaum mehr erfüllen. Meine zweite Tochter, die krank im Haus liegt, kämpft seit Wochen mit den seelischen Folgen des Vorfalls. Sie hat oft Fieber und Schmerzen“. Es war offensichtlich, dass es der Familie an Grundnahrungsmitteln und Medizin fehlte.
„Hat die Armee denn die versprochene Summe bereits gezahlt?“, fragt Bimala die beiden Männer und kannte bereits die Antwort. Die Armee würde das Geld als Druckmittel zurückhalten. Die Menschenrechtsverteidigerin erklärte: „Ihr habt bestimmte Rechte. Dazu zählt auch eine angemessene finanzielle Kompensation: eine offizielle Entschädigung.“ Der alte Mann stimmte der jungen Frau nun lautstark zu. Das die Familie durchaus Bereitschaft zum Kampf für Gerechtigkeit zeigte, verdeutlicht das Auftreten der kranken Tochter Krishnas: Bei einer Demonstration in Gulariya, der Hauptstadt des Distrikts Bardiya, hielt sie eine Rede vor dem Polizeigebäude. Sie forderte die Bestrafung der Täter. „Es wäre gut, wenn Du in einigen Tagen nach Gulariya kommst, Krishna“, sagte Bimala. „Dort können wir mehr erreichen als hier. Und pbi kann zu deinem Schutz beitragen. Bitte überlege es Dir“.
Als wir am nächsten Tag den Rückweg zu unserem Auto antraten, war uns nicht ganz wohl bei dem Gedanken, Krishna könnte den Kampf gegen die Armee wieder aufnehmen. Sicher waren wir uns hingegen darüber, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden mussten.
Fortsetzung folgt …