Magazin Beitrag
Ungarn im Herbst
„Wer immer nur in die Vergangenheit schaut wird mit dem Arsch in die Zukunft gehen.“ - so der Pester Lloyd, eine der größten deutschsprachigen Zeitungen Ungarns, in einem Kommentar zur aktuellen politischen Entwicklung. Der Anlass für die ungewöhnliche Bemerkung war die Einweihung eines Denkmals in der ungarischen Provinzhauptstadt Kecskemét. Inmitten des landwirtschaftlichen Zentrums der ungarischen Tiefebene haben die Stadtplaner eine Gedenkstätte errichtet, welche Erinnerungen an die faschistische Vergangenheit Ungarns weckt. Zugleich ist sie Ausdruck einer neuen Bewegung, die sich anschickt, die ungarische Gesellschaft von Grund auf umzugestalten. Zu besichtigen ist dieses „neue“ Ungarn neben dem Rathaus von Kecskemét wo eine ungarische Fahne auf Halbmast weht und darunter eine Kalksteinplatte die Umrisse Großungarns nachzeichnet.
Dieses Staatenkonstrukt aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg umfasste Gebiete u.a. im heutigen Rumänien, der Slowakei und Kroatiens und Teile der Donaumonarchie. Nach Kriegsende mit dem Friedensvertrag von Trianon gingen 2/3 des Territoriums an die z.T. neu geschaffenen Nachbarstaaten und ca. 3 Millionen Ungarn hatten ihre Hauptstadt von da an nicht mehr in Budapest, sondern in Prag oder Bukarest. Der Tag der Vertragsunterzeichnung, der 4. Juli wurde in den folgenden Jahren der Zwischenkriegszeit zum Symbol für den Widerstand durch revanchistische und offen faschistische Kräfte unter dem de facto Staatsoberhaupt Miklós Horthy von 1921 bis 1944. In dieser Zeit hingen alle ungarischen Fahnen auf Halbmast um die Unvollständigkeit des ungarischen Gebietes zu symbolisieren, während eine aktive Bündnispolitik mit faschistischen Machthabern im europäischen Ausland betrieben wurde. Auch heute ist der 4. Juli wieder zu einer lagerübergreifenden Projektionsfläche für nationalistische Bewegungen in Ungarn geworden. Die regierende Fidesz-Partei erhob den Tag zum offiziellen Gedenktag, und in Kecskemét wurde eine symbolträchtige übergroße Kalksteinplatte eingeweiht. Der Bürgermeister betonte bei dieser Gelegenheit recht unverblümt, dass die Baupläne bereits auf das Jahr 1940 zurückgingen.
Widerstand regt sich dagegen kaum, vielmehr steht es im Einklang mit einer Vielzahl von Gesetzen und Erlassen die in jüngerer Zeit von einem radikalen Wandel in Ungarn zeugen. Dafür steht auch Victor Orban und dessen Fidesz-Partei, die mit 2/3 der Sitze im Parlament die Politik an Donau und Theiß dominiert. Während die Verfassungsänderung oder das Mediengesetz auch über die Grenzen hinaus für einige Aufmerksamkeit sorgten, wird das Vorgehen auf lokaler Ebene kaum bemerkt. In Budapest zum Beispiel untersagt eine neue Regelung das Schlafen auf Straßen und öffentlichen Plätzen. Wohnungslose werden nach dieser Verordnung verpflichtet, eine Notunterkunft aufzusuchen - bei Weigerungen erwartet diese “Schlafhaft”. Zusätzlich werden Bußgelder für das Nächtigen unter freiem Himmel erhoben, die bei Nichtbezahlung mit Ersatzhaft sanktioniert werden. Wieviele Betroffene sich diese Bußgelder leisten können, ist absehbar. Verantwortlich für diese Regelungen ist der neu ernannte »Parteikommissar für Obdachlosenfragen« Máté Kocsis, der erst kürzlich als Bezirksbürgermeister mit einen Volksentscheid zur Kriminalisierung Wohnungsloser für Aufsehen sorgte. Rückendeckung erfährt er durch den Budapester Bürgermeister István Tarlós, der seine verkürzten und inhaltlich unhaltbaren Strategien auch gerne öffentlich äußert.
Wenn wir Obdachlosigkeit nicht als kriminelles Problem begreifen, wenn wir damit fortfahren zu sagen, Obdachlose sind keine Angelegenheit für die Exekutive, dann werden wir enden wir andere Staaten, wo ständig schreckliche Dinge in den Nachrichten zu hören sind.
Bei dieser Offenherzigkeit erscheint die Aussage, dass die Wohungslosen als Gegenleistung für ihre Unterbringung zu Arbeit verpflichtet werden, schon fast als Randnotiz.
Doch das sind nicht die einzigen im Ungarn Victor Orbans, die von einer erhöhten Aufmerksamkeit quasi verfolgt werden. Unter dem Motto »Arbeit statt Sozialhilfe« verabschiedete das ungarische Parlament ein neues Gesetz, das den Bezug von Arbeitslosengeld auf eine Dauer von 90 Tagen beschränkt (bisher 270 Tage). Daneben bietet es künftig die Möglichkeit, Bezieher von Sozialhilfe zwangsweise für alle Arten von Arbeit anzustellen. Hierbei spielen Entfernungen keine Rolle, da für entlegene Arbeiten neue Container-Siedlungen vorgesehen sind. Besondere Brisanz erlangt das Gesetz durch den Umstand, dass für die Überwachung und Durchführung dieser “öffentlichen Arbeitsprogramme” das Innenministerium zuständig ist. Der zuständige Innenminister Pintér äußerte sich dahingehend, dass »pensionierte Polizisten genau die richtige Qualifikation für diese Aufgaben« hätten. Die denkbaren Szenarien dazu reichen vom staatlichen Lohndumping bis hin zu bewachten Arbeitslagern. Gerade bei den ohnehin bedrängten Roma ist die Angst weit verbreitet – das Beispiel Gyöngyöspata nährt Befürchtungen.
Die Ortschaft im Norden Ungarns geriet im Frühjahr in die Schlagzeilen, als uniformierte Bürgerwehren aufmarschierten und die ortsansässigen Roma mit dem Tod bedrohten. Die Roma wurden schließlich vom Roten Kreuz evakuiert, während die Regierung abwiegelte und hierbei von einem lange geplanten Osterausflug sprach. Danach wurde es ruhig um Gyöngyöspata. Doch die Lage für die Roma hat sich keineswegs entspannt, eher ist die Situation nun in “geordneten Bahnen”. Denn die nach den Vorfällen stattfindenden Bürgermeisterwahlen gewann der Vertreter der neofaschistischen Jobbik. Als eine der ersten Amtshandlungen forderte er nun offiziell und vom Gesetz gedeckt eine Bürgerwehr, die die “Zigeunerkriminalität” eindämmen soll. Im September besuchten Reporter des “Standard” die Ortschaft und trafen einen Bürgermeister, der sich rühmt härter durchzugreifen, und Roma, die auf Grundlage des Arbeitsgesetz zwangsverpflichtet wurden.
Sie berichten von verächtlichen Bemerkungen des Bürgermeisters: »Entweder ihr rodet diesen Hügel oder ihr verschwindet.« Sie erzählen, wie schwer die Arbeit sei, zu der sie jeden Morgen drei Kilometer zu Fuß gehen müssen, bei Regen und Sturm, sonst gibt es Abzüge von der Sozialhilfe.
In Budapest gehen mittlerweile einige zehntausend Menschen auf die Straße, um gegen die autokratisch regierende Fidesz Partei zu protestieren. Ob die Proteste auf absehbare Zeit in der Lage sein werden die dominierende Stimmung im Land zu drehen ist fraglich. Eine weitere Verschärfung der Lage dagegen ist nicht unwahrscheinlich. Die regierende Fidesz-Partei scheint derzeit von der am rechten Rand stehenden Jobbik getrieben zu sein und bewegt sich deshalb selbst immer weiter nach rechts um eventuellen Stimmverlusten vorzubeugen. Die gerade erst am Anfang stehende Wirtschaftskrise wird für eine Trendwende nicht förderlich sein. Die oppositionellen Parteien sind derweil zerstritten und durch zurückliegende Skandale größtenteils diskreditiert. Die EU äußert sich kaum zu den aggressiv nationalistischen Tönen aus Ungarn, während der regierende Bürgermeister von Berlin seinem Budapester Amtskollegen das goldene Buch der Stadt zum Unterschreiben vor die Nase legte. Von Kritik ist nichts zu hören.