Magazin Beitrag
Noch lange kein Ende
Nach dem überraschenden Sturz der Regimes in Tunesien und Ägypten sah es zunächst so aus, als habe die Demokratie einen überwältigenden Sieg im Nahen Osten errungen. Doch jetzt, nach dem Ende der ersten Euphorie, ist klar: Es ist noch ein weiter Weg. Die Menschen resignieren aber nicht, sondern sind weiter bereit, für ihre Ziele zu kämpfen.
Im Jemen, wo sich der Diktator Salih seit Jahrzehnten und trotz der wochenlangen Proteste noch immer an der Macht hält, gehen die Demonstrationen weiter. Und auch der Druck aus den Nachbarländern nimmt zu. Die Regierungen Katars und anderer Golfstaaten hatten vorgeschlagen, dass der Präsident gegen Zusicherung von Straffreiheit zurücktritt. Noch ist völlig offen, wie es hier weitergeht. Teile der Armee und einige führende Politker haben sich jedoch bereits von Salih distanziert.
Der syrische Staatschef Baschar al-Assad hat angesichts des Widerstands einige vorsichtige Reformen eingeleitet oder versprochen. Gleichzeitig setzt er darauf, mit Gewalt an der Macht zu bleiben. Selbst Scharfschützen sollen im Einsatz sein. Unklar ist, ob auch von Seiten der Opposition Morde begangen wurden. Das staatliche Fernsehen spricht von 19 toten Polizisten. Vor allem in den kurdisch dominierten Regionen kam es zu öffentlichen Kundgebungen. Wohl auch deshalb galt eine der ersten Maßnahmen Assads der Wiederverleihung des Bürgerrechts an 250.000 Kurden, das ihnen in den 60er Jahren aberkannt worden war.
In Bahrain ging die Regierung gegen die oppositionelle Waad-Gesellschaft vor: Ihre Büros wurden geschlossen und ihr Internetauftritt gesperrt. Angeblich habe sie die Armee verleumdet und Unruhen geschürt. Vor einigen Wochen kam es hier mit Unterstützung Katars und Saudi-Arabiens zu einer gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen, die sich gegen die Regierung und Diskriminierung richteten. Forderungen waren Verfassungsänderungen und ein Ende der quasi-absolutistischen Herrschaftsform.
Von besonderem Interesse ist das bevölkerungsreichste arabische Land Ägypten. Der Rücktritt des Präsidenten Mubarak hatte die Machtübernahme durch einen Militärrat mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Tantawi zur Folge. Dieser war nicht nur ein enger Vertrauter des Potentaten, sondern ist auch Repräsentant der mächtigen Armee. Dementsprechend wurde bisher kaum etwas gegen die alte Elite unternommen; die jüngsten Verfassungsreformen werden von vielen Protestlern als ungenügend abgelehnt. Mubarak steht in dem östlichen Badeort Sharm el Sheik unter Hausarrest, sein Vermögen wurde eingefroren.
Die Demonstrationen in Kairo haben fast wieder das Ausmaß vom Februar angenommen. Die Forderungen reichen von Gerichtsverfahren gegen Mubarak und seinen Clan über einen Rücktritt Tantawis bis zu entschiedeneren Maßnahmen zur Demokratisierung des Landes. Der Militärrat wird von vielen nur noch als Gerontokratie der alten Seilschaften wahrgenommen. Darüber hinaus richtet sich der Unmut auch gegen die USA und Israel. Vor allem den Vereinigten Staaten wird vorgeworfen, sich allzu sehr in die inneren Angelegenheiten einzumischen. Zudem gab es auch propalästinensische Kundgebungen vor der israelischen Botschaft.
Einige Offiziere sollen sich entgegen einem ausdrücklichen Verbot der Armeeführung den Protesten angeschlossen haben. Möglicherweise könnte das der Anfang eines aufbrechenden Konflikts innerhalb der Streitkräfte sein. Die hatten sich bisher zunächst neutral verhalten und dann, nach dem Rücktritt Mubaraks, die Regierungsgeschäfte in die Hand genommen. Allerdings nur vorübergehend, wie sie stets betonten. Der Militärrat zeigte sich gegenüber den neuen Demonstrationen unnachgiebig. So ließ er verlautbaren, sie seien von „Gesetzlosen“ angezettelt worden; die nächtliche Ausgangssperre gilt weiterhin. Und es kam zu den ersten blutigen Zusammenstößen zwischen Militär und Volk seit dem Ende der alten Regierung.
Mittlerweile schreitet die Vernetzung der Opposition weiter voran. Zahlreiche lokale Komittees haben sich gebildet, auch um bei den anstehenden Wahlen das Feld nicht den bisherigen Kräften und den Muslimbrüdern zu überlassen. Noch ist weitgehend unklar, wie die Kräfteverteilung aussieht und ob die Opposition einen direkten Machtkampf mit den Militärs gewinnen könnte.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Proteste in vielen Teilen der arabischen Welt halten unvermindert an. Und das, obwohl die alten und neuen Regimes keineswegs bereit sind, das hinzunehmen und über vorsichtige Reformschritte hinaus den Forderungen entgegenzukommen. Ganz im Gegenteil; vielfach hat sich die Gewalt deutlich gesteigert. Das gilt keineswegs nur für Libyen, das einzige Land, in dem es bisher zu einem offenen Bürgerkrieg gekommen ist. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Demonstranten wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen haben. Denn anders ließe sich ihr riskantes Vorgehen kaum erklären. Um so mehr wird offenbar, wie notwendig tiefgreifende Veränderungen in diesen Ländern sind. Das gilt nicht nur für die Ablösung der Regierungsspitzen, sondern auch und ganz besonders für die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im allgemeinen. Dem Nahen Osten steht noch ein weiter Weg bevor – aber, und das ist die gute Nachricht, viele scheinen dafür bereit zu sein.